■ Der Prozeß gegen den DDR-Spionagechef Markus Wolf
: Moral am falschen Ort

Jeder Liebhaber von Agentenromanen weiß, was Spionage auszeichnet: In diesem Genre wird erpreßt, entführt und auch gemordet. Das ist der Kitzel, den vornehmlich englischsprachige Autoren wie John le Carré oder Frederick Forsyth mit kühlen Schilderungen vor einem Millionenpublikum ausbreiten. Dagegen spielen sich die Bundesanwälte im Verfahren gegen den früheren DDR-Spionagechef Markus Wolf wie Hohepriester einer Moralanstalt auf. In drei Fällen wird dem 73jährigen Nötigung, Freiheitsberaubung und Körperverletzung vorgeworfen. Man muß wahrlich kein Mitleid mit dem einstigen Profi und heutigem Weltrentner, Hobbykoch und wahrscheinlich demnächst auch Bestsellerautor Wolf haben, um sich die Absurdität der Anklage vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht vor Augen zu führen.

Wolf hat, als überzeugter Kommunist, getan, was überzeugte Antikommunisten vom Bundesnachrichtendienst in Pullach ebenfalls taten: dem jeweils anderen Staat möglichst großen Schaden zuzufügen. Heribert Hellenbroich, Ex-BND-Präsident, hat Wolf, wohl aus Wissen ums eigene Handeln, attestiert, nichts getan zu haben, was „moralisch zu verurteilen wäre“. Wolf mag solche Worte gerne hören. Ob sie ihm im jetzigen Verfahren, das moralische Kriterien in strafrechtliche Vorhaltungen kleidet, helfen werden, hängt nicht zuletzt von der Einsicht der Kammer ab. Wolfs gestrige Erklärung – zuvor als kleine Sensation gehandelt – konnte daher gar nicht anders ausfallen als akribisch im Detail.

Für Wolf geht es darum, einen Popanz zu entkräften, den die Bundesanwälte aus drei Fällen konstruieren und die die DDR-Auslandsspionage zur Schwerverbrechertruppe machen will. Was die in Agentenromanen offenbar unbewanderten Bundesanwälte aber vergessen oder bewußt unterschlagen haben: Art, Umfang und Tätigkeit der Geheimdienste waren stets ein Spiegel ihrer Zeit.

Besonders skrupellos ging es in den 50er und 60er Jahren zu. Es mag manche geben, die Wolfs gestrigen Satz, West-Berlin sei 1959 einer der „entscheidenden Stützpunkte“ im Kalten Krieg gewesen, für die plumpe Ausrede eines Propagandisten halten. Daß dem nicht so war, beweist ein Blick in die einschlägigen Romane, von denen manche immerhin zu Weltruhm gelangten. Severin Weiland