Kaninchen wollen Ratten sein

■ Zwei Konzerte der besonderen Art: John S. Hall und Charles Curtis sind radikale Musikfrickeler

Das Fantastische hat bei ihnen erschreckend realistische Züge, und ihre Realität mutet zuweilen ziemlich fantastisch an. Die New Yorker John S. Hall und Charles Curtis nutzen unterschiedliche Erzähltechniken, doch beide errichten ihre Kunstwelten am Schnittpunkt von Spoken Word und Avantgarde-Rock.

Schwer zu sagen, wessen Geschichten mehr verstören. Radikal sind beide auf ihre Art. Doch der Extremere ist John S. Hall. Für sein Solo-Debüt The Body Has A Head, unlängst bei der Hamburger Plattenfirma Manifatture Criminali erschienen, schlüpft er in unterschiedliche Rollen. Die Songs, wenn man diese musikalisch untermalten Erzählungen denn so nennen will, spricht er mit changierenden Stimmen. Mal mimt er den Märchenonkel und berichtet von einem Kaninchen, das lieber eine Ratte wäre. Dann macht er den Psychopathen, der seinem Nachbarn in der U-Bahn die Fresse polieren will. Oder er redet im Tonfall des Therapeuten über Intellektuelle und ihre Minderwertigkeitskomplexe in Sachen Gemächte. Eigentlich müßte ein Sticker vor den Explicit lyrics warnen, schon weil er in „My Lover“ ein S/M-Szenario malt – zu der kammermusikalischen Begleitung von Cellistin Jane Scarpantoni und Sash Forte an der Violine. Das ist typisch für Hall: Je härter die Texte, desto weicher die Instrumentierung. Oder umgekehrt.

Nie betreibt der Spoken-Word-Extremist seine Bizarrerien als Selbstzweck. Früher sang er bei King Missile, mit denen er den Song „Martin Scorsese“ aufgenommen hat. Eine Hommage mit psychotischem Unterton. Die Stücke von John S. Hall sind wie die Filme des Regisseurs: brutal auch in Momenten, in denen Gewalt nicht ausdrücklich vorkommt.

Bei Charles Curtis wird die Beunruhigung beim Hörer weniger durch Gewalt erzielt, auch nicht durch latente. Der Multiinstrumentalist entstammt ebenfalls der New Yorker Avantgarde-Szene, gab schon ein Gastspiel bei King Missile und hat ebenfalls sein Zuhause bei einem Hamburger Label gefunden. Volcanoes, das siebzigminütige Album seines Charles Curtis Trios, erschien bei Strange Ways. Hier enden die Gemeinsamkeiten.

Die Methodik von Curtis, der sein Geld zur Zeit als Cellist für das NDR-Symphonieorchester verdient, ist dem Velvet-Underground-Klassiker „The Gift“ entlehnt. Gitarre, Bass, Schlagzeug liefern ausladende Soundscapes, über die Curtis mit unbekümmerter Stimme spricht. Über 15 Minuten laufen Lyrics und Sounds oft nebeneinander her, ein Affekt im klassischen Sinne stellt sich nicht ein.

Die Kaltschnäuzigkeit eines guten Detektivromans geht von dieser Art des Erzählens aus, zumal die Stimme bei Konzerten vom Band kommt. Trotzdem bleibt der Zuhörer nicht unbeteiligt. Episch ausholende Chronologien des morgendlichen Aufstehens wirken nach gewisser Zeit ebenso irritierend wie jenes Erlebnis, aus einem Traum aufzuwachen, um festzustellen, daß man in einem anderen gelandet ist. Der Song „Sleep“ handelt davon. Aber im Grunde genommen vermittelt jeder Song von Charles Curtis dieses Gefühl.

Christian Buß

Curtis: Mi, 15. Januar, 21 Uhr, kir

Hall: Do, 16. Januar, 21 Uhr, MarX