Broschürenrealität ohne Frischluft

Die Etablierung Kreuzbergs als Pflegefall hat den Bezirk unfähig gemacht, auf die veränderte Situation seit 1989 zu reagieren. Zukunft als Innenstadtbezirk mit Öffnung nach Osten  ■ Von Dieter Hoffmann-Axthelm

Kreuzbergs Sanierungsgebiete rund ums Kottbusser Tor werden demnächst „aufgehoben“, in die städtebauliche Normalität entlassen. Unvermeidlich wird jetzt auch die Frage gestellt: Was hat die Sanierung dem Bezirk Kreuzberg gebracht?

Hierauf ließe sich, wenn alles so weitergelaufen wäre wie gedacht, heute die eine oder andere kritische Antwort geben; immerhin eine Antwort innerhalb der Perspektive, mit der die Sanierung einmal begonnen und mit all ihren Umbrüchen durchgeführt wurde.

Nun ist es aber nicht so weitergelaufen: Angesichts von Mauerfall und Wiedervereinigung Berlins ist dem Ereignis sein ihm zugehöriger Rahmen abhanden gekommen.

Die eigentlich naheliegende Frage wird also unweigerlich überschattet durch andere, aktuellere und weitergreifende.

Zum Beispiel: Was bedeutet heute, im vereinigten und verarmten Berlin, das Kreuzberger Modell der behutsamen Stadterneuerung? Daß es einmal eine die hochsubventionierte Westberliner Kleinwelt bewegende Alternative zum Kahlschlag war, ist doch Schnee von gestern. Heute gibt es in Bezirken wie Prenzlauer Berg und anderswo aufgrund vierzigjähriger unterlassener Instandhaltung seitens der DDR wirkliche Sanierungsgebiete, es fehlt aber das Geld, ob nun für Kahlschlag oder Behutsamkeit. Ob Altbau oder Platte, zu sanieren ist alles, was schon vorhanden ist und nicht für noch mehr Geld erst erstellt werden muß.

Oder eine noch viel unangenehmere Frage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Schicksal „Sanierungsgebiet“ und der markanten Unfähigkeit des heutigen Kreuzberg, mit der Tatsache der Wiedervereinigung Berlins umzugehen?

Der Bezirk Kreuzberg weigert sich seit sechs Jahren standhaft, die Deutsch-Berliner Einigung anzuerkennen. In dem Maße, in dem das Luisenstädtische Kreuzberg sich als Pflegefall etablierte, ist es heute unfähig, auf die neue Situation seit 1989 zu reagieren. Man igelt sich ein, tut so, als wäre nichts gewesen, und verteidigt den Bestand der in allen wesentlichen, grenzbetroffenen Teilen der einer Westberliner Sondersituation ist: wenn nicht Sanierungsgebiet plus Altbau-IBA, dann doch zumindest IBA-Neu. Nirgendwo war der Mauerverlauf auf Westberliner Seite so pittoresk zu städtebaulicher Struktur geworden, nirgendwo wurde so viel öffentliches Geld hineingesteckt.

Und nirgendwo tut man sich so schwer, mit der nicht mehr aufrechtstehenden Mauer zurechtzukommen. Schauplatz Dresdener Straße (oder Bethaniendamm): Knapp sieben Jahre nach der Öffnung stehen noch die Barrikaden des ersten Schocks, die statt der Mauer vom Gartenbauamt hertransportierten Pflanzkübel. Die Nachricht ist eindeutig: Eintritt unerwünscht, bitte weder Frischluft noch Neuigkeiten, wir träumen weiter.

Selbstverständlich geht es nur um Verkehrsberuhigung, spielende Kinder, um die Bevölkerung, die türkischen Gärtner und überhaupt die historische Rolle Kreuzbergs als mit Grün und Freiraum unterversorgtem Bezirk.

Natürlich gibt es Gründe für diese Weigerung. Eine Generation lang existierte der zum Bezirk Kreuzberg und damit zum Westen gehörige Teil der Luisenstadt unter städtebaulichem Sonderrecht. Dabei hat man sich an eine Welt gewöhnt, in der viel Geld für Mieterberater, Sozialplaner und Architekten ausgegeben wurde, damit kein Haifisch, der Zähne hat, so recht zubeißen konnte. Man hat sich an die Ausnahmerolle gewöhnt; daran, daß alles, was wünschbar ist, mit Hilfe öffentlicher Mittel irgendwie auch machbar ist. Man hat sich unmerklich abgewöhnt, selber verantwortlich zu sein, mietspiegelgerechte Mieten zu zahlen, Risiken ohne Sozialplan einzugehen wie in Lankwitz oder Reinickendorf üblich.

Diese Geschichte ist allerdings nicht zu erzählen ohne die vielen, die von ihr gelernt und die vor allem an ihr verdient haben: zunächst die Sanierungsträger und Bauarbeiter, für deren Beschäftigung die Sanierung eines intakten Viertels erfunden wurde; zweitens die Altbau-IBA als Unternehmen mit Geschäftsführung, Betriebsrat, sozialversicherten Mitarbeitern; drittens das Heer von jungen Architekten, Landschaftsplanern, Soziologen, Psychologen, Historikern, Schreibern, die als Mieterberater, Auftragnehmer, Angestellte des Vereins SO 36, Zeitungs- und Ausstellungsmacher ein Auskommen oder einen Gelegenheitsjob fanden und entsprechend dafür fochten, daß der guten Sache nicht frühzeitig durch böse CDU-Politiker der Hahn abgedreht wurde.

Diese Geschichte ist erst recht nicht zu erzählen ohne Eingehen auf die fatale Kadenz der aufeinander wie heiß und kalt folgenden Phasen von 30 Jahren Sanierungsgeschichte. Diese 30 Jahre verliefen äußerlich höchst ungleich, und es lohnt sich, die Phasen zu unterscheiden.

Erste Phase: die Gewalttaten der Kahlschlagsanierung. In Willy Brandts Regierungserklärung von 1963 ist das Programm nachzulesen: Abriß der gesamten Altbausubstanz, Aufbau einer neuen Stadt. Dies war der primäre Kontinuitätsbruch, die Durchschneidung des Bandes, das Bewohner, Hausbesitzer, Werkstätten und Kunden zusammenhielt. Er betraf das gesamte Gebiet nördlich des Landwehrkanals zwischen Prinzenstraße und Schlesischem Tor: Einstellung der Instandhaltung, forcierter Aufkauf durch die Wohnungsbaugesellschaften, Abwanderung und türkische Einwanderung. Die wörtliche Exekutierung erfolgte in den Jahren 1965–70 am Wassertorplatz, 1971–78 im Gebiet Admiralstraße.

Inzwischen wurden aber die Zielsetzungen wacklig. 1975 blies der damalige Bausenator Harry Ristock die Errichtung einer dritten Trabantenstadt (Lichterfelder Ring) ab. Die Rückwendung auf die Innenstadt wurde Programm, die Großtafelgebirge vom Typ Neues Kreuzberger Zentrum, Wassertorplatz oder Langer Jammer im Märkischen Viertel wurden zu Symbolen einer fehllaufenden Moderne und eingesparter Architektur, und die 68er Architekten und Planer entdeckten die Blockform als Schlüssel einer unblutigeren Erneuerung. Daß freilich alles, was nicht Blockrand, also zweispänniges Wohnhaus war, abgerissen, daß der Block „entkernt“ werden mußte, war klar.

In dieser Atempause entfaltete sich die zweite Phase, der kurze Sommer der Anarchie, 1978/79. Ein Bündnis aus 68ern und jungen Alternativen einerseits, von alten Luisenstädtern andererseits schaffte es, die Kahlschlagsanierung im Gebiet nördlich des Kottbusser Tors zu stoppen. An den Rändern der Bewegung kam die Einsicht auf, daß unabhängig von allen stadtplanerischen Methoden und architektonischen Moden das ins Viertel gepumpte Geld das eigentliche Übel war, das alles zerstörte; es gab nicht zu wenig, sondern zu viel Geld.

Der Gegenentwurf, Autonomie durch Selbsthilfe, wurde immerhin gedacht und auf die neuentdeckte Blockstruktur und die im Blockkern vorhandene Mischung von Leben und Arbeiten bezogen, wie sie gerade noch hier und da existierte und nun der Entkernung zum Opfer fallen sollte.

Dritte Phase: Auf dem Rücken des Widerstands im Viertel selbst wurde Hardt-Waltherr Hämer mit der Altbau-IBA zum Konfliktlöser berufen.

Nun kehrte sich alles um: statt Gewalt Behutsamkeit, statt Sanierung Heilung, statt gegen sollte es mit den Bewohnern gehen, statt Vertreibung Bleiben. Bleiben aber bei modernisierten Grundrissen und Gebietsstrukturen. Das war, selbst wenn kein Haus mehr abgerissen wurde, die sozialplanerische Homogenisierung, die anderswo der Markt von sich aus besorgte. Das Gewerbe hatte keine Chance, war auch nicht mitgemeint, sondern zählte zu den Übeln wie Rauch und Cholera, von denen die Sanierung das Gebiet zu befreien hatte. Es gab mehr Kontinuität, als es den Anschein hatte.

Das Sanierungsgebiet erhielt darüber hinaus mit der IBA eine eigene Regierung, die in den Jahren ihrer Kerntätigkeit (bis 1987) damit befaßt war, die Sanierungsziele unter Erhalt der vorhandenen Bebauung zu erreichen. Die IBA wirkte als Puffer zwischen Senat, Bezirk und Sanierungsträgern (den städtischen Wohnungsbaugesellschaften, später auch Privaten und schließlich sogar einem alternativen Träger) einerseits, Bewohnern und Initiativen (später auch den Besetzern) andererseits.

Sie beschulte die Bezirksverwaltung im Namen der Bewegung von unten und kanalisierte Bewohner und Initiativen namens des Drucks von oben. Unvermeidliche Begleiterscheinung (und oft Hauptaufgabe) war das Niederkonkurrieren der autonomen Zusammenhänge. Dies erfolgte über einen warmen Regen von Kleinaufträgen, mit denen die fachlichen Potenzen der Alternativbewegung, die diejenigen der IBA- Macher bei weitem überstiegen, angeeignet wurden.

Emblematisch für den dabei entfalteten Zweifronten-Opportunismus war das Schicksal des Blocks 104 an der Skalitzer Straße: Abriß als Einstandsgeschenk 1978 an die Wirtschaft, dann, statt Neubebauung, die städtebaulich groteske Konzession eines Miniparks als Bündnis mit eingewanderter, teils am Ort gewachsener Kleinstadtmentalität: Kreuzberg grün.

Dieser Weg des Stadtviertels aus dem gewaltsamen Zugriff der Bagger in die behutsame Belagerung der Sozialplaner hatte dauerhafte Folgen: Die neue Behutsamkeit legte sich als Wundverband über das alte Viertel. Man fühlt sich seitdem als Opfer, glaubt, für alle Zeit Forderungen stellen zu dürfen im Blick auf ehemaliges Sanierungsunrecht, ohne dafür Verantwortung übernehmen zu müssen.

Die Bewohner, denen dieses Unrecht seinerzeit widerfuhr, sind längst weggezogen oder tot. Die Wiedergutmachung trifft eingewanderte Türken und junge Kleinstädter aus Schwaben, die gar nicht wissen, worum es geht.

Zugleich gewöhnten alle Beteiligten sich an eine eigene Kultur des Scheins: grüne Höfe und bunte Häuser, während alles Sperrige dem Druck der Modernisierung erliegt. Kreuzberg ist seitdem eine vielfach prämierte buntfarbene Broschürenrealität: das veröffentlichte Viertel. Dies ersetzt die Geschichte und alles das, was einst die Luisenstadt als Speerspitze bürgerlicher Berliner Selbständigkeit ausgemacht hatte.

Hier liegt der entscheidende Punkt. Die Außerordentlichkeit der Kreuzberger Erfahrung zu leugnen, dazu besteht kein Anlaß. Aber worin bestand sie? Im Lernprozeß der Architekten, der Wohnungsbaugesellschaften, der Verwaltung sicher auch. Aber das hätte nie und nimmer für sich diese Besonderheit ergeben.

Außerordentlich war vielmehr die Zusammensetzung der Beteiligten: eine Widerspruch gewohnte, tolerante Altbevölkerung, junge ideenreiche politisierte Zuwanderer, eine die Stabilität sichernde, neutrale türkische Bewohnerschaft. Die unerwarteten Querverbindungen waren die Stärke dieses Bündnisses. Und außerordentlich war die bauliche Struktur des Viertels, die diese Querverbindungen ermöglichte, nahelegte und aus älteren Verhältnissen her bereits enthielt.

Das aber war eine zeitlich befristete historische Substanz. Mit dem Wegsterben der Altbewohner, dem Verschwinden der eingesessenen Gewerbe, der Bereinigung der baulichen Strukturen ist die Luisenstadt-Geschichte zu Ende gegangen, es wurde endgültig „Kreuzberg“ daraus. Diesem Kreuzberg fehlt nun genau die Eigenschaft, die die Luisenstadt ausmachte: die Fähigkeit eigensinniger Selbständiger, sich auf neue Herausforderungen umsichtig einzustellen. Dieses Kreuzberg scheint insbesondere unfähig, sich darauf einzustellen, daß der Tropf, an dem man so lange gehangen hat, jetzt einfach abgestellt wird.

Statt dessen verteidigt man, unbekümmert darum, daß die Welt ringsum sich geändert hat, die alten Errungenschaften, maßstabslos nebeneinander Beratungsstrukturen der Tutelargesellschaft und Begrünungsgewinne auf Abrißgrundstücken und städtebaulichen Abstandsflächen. Diese Verteidigungshaltung zusammen mit der Verweigerung der eigenen innerstädtischen Lage und Rolle dürfte sich als die eigentliche Hypothek der 30 Jahre Sanierung erweisen.

Denn Kreuzberg hat nur als Innenstadtbezirk Zukunft, begriffen als gemeinsames Schicksal mit Mitte, Tiergarten, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Daß im Bezirk Mitte sich auf der anderen Seite der einstigen Mauer die PDS- Wähler in ihren Zeilenbauten und Großtafelgebäuden genauso einigeln gegen jede Veränderung und Gegenwart, ist keine Entschuldigung.

Wenn die beiden Blockaden sich weiter gegenseitig affirmieren und das Wiederzusammenwachsen Berlins so erfolgreich wie bisher blockieren, dann wäre es in der Tat im Interesse der Gesamtstadt, dieser neuen Mauerbildung wenigstens die verwaltungstechnische Grundlage durch Zusammenlegung oder Neugruppierung der Bezirke zu entziehen. Was sind schon 75 Jahre Kreuzberg gegen 350 Jahre Luisenstadt?