Endlich Endstation

■ An die Wolga ist es weit. Noch viel weiter ist es, wenn man "Die Reise nach Saratow" mit der Bahn macht (21.45 Uhr, ARD)

Bahnhof Berlin-Lichtenberg. Jeden Samstag um 11.46 Uhr beginnt hier die längste Bahnreise, die von Deutschland aus möglich ist. 2.600 Kilometer sind es bis nach Saratow, der Stadt an der Wolga, die deutsche Kolonisten im 19. Jahrhundert errichtet hatten. 52 Stunden Zugfahrt für 274 Mark, Schlafkoje im Vierbettabteil inbegriffen. Für die beiden ARD-Reporter Andrea Everwien und Max Thomas Mehr beginnt in Berlin eine „Reise bis ans Ende der Welt“, der „unbekannte Osten“ schon bei der Überquerung der Oder. Sie sind Westler, und alles, was sie in den nächsten Tagen im und aus dem Zug beobachten, kommt ihnen „abenteuerlich“ vor. Als sie in Westrußland auf einem Bahnhof verhärmte Frauen filmen, die Äpfel an die Passagiere verkaufen, werden sie von Bahnpolizisten als Voyeure beschimpft.

Es ist das Problem des Films, daß sie tatsächlich welche sind. Sie, die sich als „Exoten“ fühlen und die anderen als Teil einer „Völkerwanderung“, machen ihren fremden Blick nicht zum Thema, sind nicht die Spur selbstironisch. Im Zug sammeln sie Begegnungen mit schwermütigen Rußlanddeutschen und mit temperamentvollen Kasachinnen, auf den Bahnsteigen filmen sie fliegende Händlerinnen. Sie fragen nicht wie Ethnologen, die etwas Neues erfahren wollen, sondern sie präsentieren die Geschichten wie Politologen, die etwas zu beweisen haben.

Im Zug fährt die Mafia mit, die Schlafwagen sind ein einziges Warenlager für Schmuggelgut, die Zöllner schauen weg. Rußland ist arm, und je tiefer man ins Land hineinfährt, desto orientalischer wird das Ambiente. Draußen Melonen, drinnen Tanz. Gelungen sind ihre Szenen im berühmten Umspannwerk des früher wichtigen Eisenbahnknotenpunkts Brest. Wir sehen mitten im Werk einen funktionierenden Laden mit Wurst und Käse im Angebot. Ohne die betriebseigene Schweinefarm und die Bierbrauerei wäre die Bahn, einst Stolz der Sowjetunion, pleite, erfahren wir vom Direktor. Bei diesen Bildern braucht man nicht mehr zu erklären, daß sich im früheren Arbeiter-und- Bauernparadies die Zeiten geändert haben. Am Ende der Reise, auf der sie Rußland als ein „Volk der Händler“ erlebt haben, und „endlich an der Endstation“ in Saratow angekommen, unterläuft den Reportern eine distanzierende Formulierung. Absicht? „Zwei Tage müssen wir hierbleiben“, sagen sie – und nicht: „Zwei Tage dürfen wir hierbleiben.“ Anita Kugler