Ein Schreibtisch mit Alarmknopf

Ihr Arbeitsplatz ist sicher. Sie haben täglich neue Kunden. Aber immer weniger zu bieten. Die Angestellten im Arbeitsamt Berlin-Kreuzberg sind frustriert  ■ Von Vera Gaserow

Wie ein Staubsauger funktioniert das mächtige graue Gemäuer. Jeden Morgen, wenn der Pförtner die schweren Türen öffnet, saugt es Hunderte in sich ein – inhaliert die Menschen, die aus der U-Bahn strömen, verschluckt die Grüppchen, die von der Bushaltestelle herpilgern. Berlin-Kreuzberg, Charlottenstraße 90, Schichtbeginn in einer der Zweigstellen des größten deutschen Unternehmens. Die Firma hat seit langem Hochkonjunktur, Monat für Monat verzeichnet sie steigende Bilanzen. Allein die Niederlassung in der Charlottenstraße ist Brötchengeber für mehr als 20.000 Menschen. Nur Arbeitgeber ist sie nicht. Denn was der rote Anfangsbuchstabe im Namenszug verspricht, hat die Firma immer weniger zu bieten: „A“ wie Arbeit.

Arbeitsamt – die Zeiten müssen andere gewesen sein, als sich jemand diesen Namen ausdachte. Das fünfstöckige Gebäude hier ist jedenfalls alles andere als ein Hort für Arbeit, eher ein Monument ihrer Abwesenheit. Das Arbeitsamt IV von Berlin, zuständig für die Stadtteile Kreuzberg und Schöneberg, gehört zu den Rekordhaltern des Mangels. 22 Prozent Arbeitslosigkeit – fast nirgendwo in Deutschland ist die Quote so hoch wie hier, mitten in der Hauptstadt. 22 Prozent – nur zwei Arbeitsämter in der ostdeutschen Provinz übertreffen noch diese Negativspitze. 22 Prozent – das heißt: eene meene mu. Beinahe jeder vierte, der in der Rubrik „abhängig beschäftigt“ stehen müßte, ist seine Arbeit los.

Birgit Rogg hat Arbeit, mehr als genug. Wie alle der rund 400 Beschäftigten im Arbeitsamt IV. Wem die Arbeitslosigkeit zum eigenen Beruf geworden ist, braucht sich über mangelnde „Kundschaft“ nicht zu beklagen. Birgit Rogg ist Arbeitsberaterin für Bauberufe. Im Erdgeschoß, hinter der Zimmertür mit dem Schild „Eintritt nur mit Einladung“, berät sie über Weiterbildung und Umschulung in dieser Branche. Doch, sagt Birgit Rogg und lächelt den tapferen Optimismus der gern rauchenden Menschen von der Zigarettenreklame, „es macht mir Spaß“. Wenn überhaupt, dann sind die Chancen bei der Fortbildung und Umschulung zur Zeit ja „noch relativ gut“ – Betonung auf „noch“ und auf „relativ“. 1997 werden auch hier die Mittel zusammengestrichen. Woher soll dann der Spaß an der Arbeit kommen?

Einen Stock höher sitzt Arbeitsvermittler Udo Hammer und praktiziert schon heute die Kunst des Hantierens mit fast leeren Händen. „Früher“, sagt der junge, freundlich-zurückhaltende Mann mit dem Rassehunde-Plakat an der Wand und den anspruchslosen Topfpflanzen auf der Fensterbank, „früher gab's ja wenigstens in der Vorweihnachtszeit noch ein paar Jobs. Aushilfen auf Weihnachtsmärkten oder in Geschäften.“ Dieses Jahr fast überall Fehlanzeige: Gastronomie, öffentlicher Dienst, Hauswartsstellen, Gartenbau. Jeden Morgen forstet Hammer die neuen Stellenangebote durch. Mit dürftigem Ertrag. 1.200 Arbeitslose hat er in seiner Kartei. Vor ein paar Jahren waren es nicht einmal halb so viele – dafür gab's doppelt so viele Jobs. „Es tut einem ja auch leid für die Leute. Da muß man erst einmal lernen abzuschalten, wenn man nach Hause kommt.“

Und man braucht etwas zum Festhalten, um jeden Morgen wieder am Schreibtisch zu sitzen: den Zusammenhalt der Kollegen, das interne Lob gegen die lauernde Sinnkrise von außen und die kleinen Erfolgserlebnisse, ohne die auf Dauer nichts läuft. Udo Hammer hat sie immer dann, wenn er „mal jemanden untergebracht“ hat – in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, einem Trainingskurs oder – bingo! – einem bis auf weiteres festen Arbeitsplatz. Wie oft das passiert? „So fünf- bis sechsmal im Monat“ – bescheidenes Vermittlerglück im rechnerischen Nullsummenspiel: Jeden erfolgreich Vermittelten ersetzt mindestens ein Neuzugang in der Kartei.

„Abgang“, „Zugang“, „Leistungsempfänger“ – man tut sich schwer, einen Namen zu finden für die Masse Mensch, die sich auf den zugigen Fluren drängt, für die Wartenden, die manchmal Stunden auf die Türen mit dem Schild „Eintritt nur nach Aufruf“ starren. Die in Stammnummern verschlüsselt ungeduldig auf den metallenen Stühlen rutschen. Oder nach Anfangsbuchstaben gruppiert von KRAF bis R vor allem an eines gemahnt werden müssen: „Bitte nur im Treppenhaus rauchen“. Die Suche nach Arbeit haben viele längst aufgegeben. Der soziale Ausleseprozeß der Marktwirtschaft ist auf den Fluren unübersehbar: Ein Drittel der Arbeitslosen sind ausländischer Herkunft, die oft schon resigniert haben, nur ein geringer Teil des „Publikums“ hat Chancen, nicht zur „Stammbelegschaft“ der Firma „Bundesanstalt für Arbeit“ zu werden. „Für einen großen Teil der Leute“, sagt eine Arbeitsvermittlerin, die lieber ungenannt bleiben möchte, „ist der Zug längst abgefahren. Die kriegst du nirgendwo unter. Die kannst du nur noch verwalten. Und viele wollen in Ruhe gelassen werden.“

Was bleibt, ist Betreuung im Schnellverfahren. „Man hat gar nicht mehr die Zeit, auf jeden einzelnen zuzugehen und ihn an die Hand zu nehmen“, sagt Maria Meier, Sprecherin der ÖTV-Betriebsgruppe im Arbeitsamt IV, „immer wartet schon einer vor der Tür, und du hast ständig das Gefühl, niemandem gerecht zu werden. Bald sind wir nicht mehr als eine Stempelbude, die Druck ausübt. Viele Kollegen sind darüber ehrlich verzweifelt.“

„Der Gestaltungsspielraum“, so nennt das Arbeitsamtsdirektor Norbert Grabitz, „hat deutlich abgenommen, aber das ist auch eine Chance für neue Ideen.“ Optimierung der Arbeitsweise, Dialog zwischen Führungskräften und Mitarbeitern, gemeinsame Zielvereinbarungen, neue Datenflüsse – das sind die Zauberworte, die Abhilfe schaffen sollen – wenn schon nicht beim Mangel, dann wenigstens bei seiner Bewältigung.

Um glatte 5.000 ist die Zahl der Arbeitslosen im Amt IV allein in den letzten vier Jahren gestiegen. Im gleichen Zeitraum wurden zehn Planstellen eingespart. Die Streichungen trafen vor allem die Arbeitsvermittlung. Bisher hat man sich mit befristeten Zusatzkräften über die Runden gehangelt. Demnächst wird auch das vorbei sein. Kein Geld mehr für Zeitpersonal. Was das für die festen Mitarbeiter bedeutet, verraten die schon jetzt überdurchschnittlich hohen Krankenzahlen: umgerechnet 25 Krankheitstage hat hier jeder Beschäftigte, das ist gut ein Monat Fehlzeit pro Jahr.

Zur Arbeitbelastung kommt der psychische Druck, die tägliche Konfrontation mit Menschen, die immer zahlreicher, dünnhäutiger und fordernder werden. Das Arbeitsamt ist oft eine Transitstation auf dem Weg zum Sozialamt. „Von Besuchen unter Alkoholeinfluß bitte ich abzusehen“, mahnt ein Aushang aus gegebenem Anlaß. Punkt drei der Hausordnung bittet, die Besuche im Arbeitsamt „nicht über den für die Erledigung Ihres Anliegens erforderlichen Zeitraum auszudehnen“. Wer länger in diesen unwirtlichen Räumen bleibt als nötig, muß es nötig haben. „Einige“, sagt Arbeitsberaterin Rogg, „kommen nur, um mal mit jemandem zu reden.“

Der Ton, in dem man miteinander redet, ist rauher geworden – auf beiden Seiten. „Schweine“ hat jemand auf den Automaten mit der Nummernausgabe gekritzelt. Der Aggressionspegel steigt, doch angesichts der Lage des „Publikums“, sagt Arbeitsvermittler Hammer, sei die Situation „doch noch relativ ruhig“. Handgreiflichkeiten und Drohungen gibt es immer mal wieder, doch meist bleibt es beim Türenknallen oder bei verbalen Attacken. Seit kurzem haben die Mitarbeiterinnen zumindest einen Alarmknopf am Schreibtisch. Und regelmäßig bietet ein Psychologe ein Antiaggressionstraining.

Bei Jürgen Maiwald war zum Glück noch der Schreibtisch dazwischen – zwischen ihm, dem wütenden Mann und dessen Messer. Maiwald arbeitet an der Stelle, wo sich der Frust staut und die Verzweiflung entlädt: in der Leistungsabteilung. Hier geht es ums Eingemachte, ums Geld. Und das ist oft so wenig, daß Maiwald sich fragt, „wie die Leute davon leben sollen“. Manchmal sitzt er mit einem Kloß im Hals hinter seinem Schreibtisch, „wenn da eine weinende Frau mit kleinen Kindern vor dir sitzt, und du kannst ihr einfach nicht mehr Geld geben. Das belastet immer wieder. Bei den Langzeitarbeitslosen kann man richtig verfolgen, wie die abbauen. Erst kommen die Abtretungserklärungen von den Banken, irgendwann die Pfändungen von der Unterhaltskasse. Und wenn dann die Arbeitslosenhilfe um drei Prozent gekürzt wird, dann klingt das erst einmal wenig. Aber wir hier kriegen mit, was das für die Leute bedeutet.“ Das sind die Situationen, in denen Maiwald froh ist, „einen festen Arbeitsplatz zu haben“. Auch wenn die Arbeit immer schwieriger wird.

„Bei jeder Gesetzesänderung, jeder Mittelkürzung muß die Leistungsstelle als Rammbock herhalten“, klagt Maiwald. „Dabei wissen wir heute selbst nicht mehr, was gerade gilt oder nicht.“ Ständig sitzt er auf Mitarbeiterschulungen über die Neuerungen aus Nürnberg und Bonn, und in seinem Arbeitszimmer stauen sich die Akten. „Hinter jeder Akte steckt doch ein Mensch, und der braucht sein Geld.“ Zwei bis drei Wochen muß ein Antragsteller auf seine Unterstützung warten – so jedenfalls die offizielle Schreibweise, inoffiziell werden oft fünf bis sechs Wochen Wartezeit draus.

„Wo bleibt mein Geld, wo bleibt mein Geld?“ Zwanzig-, dreißigmal am Tag dieselbe Frage und kurz vor Ende der Sprechzeit noch 50 Leute in der Warteschleife auf dem Flur. Das sind die Situationen, in denen Jürgen Maiwald tief durchatmen muß, bevor er auf den Gang hinausgeht. „Dann fällt schon mal ein falsches Wort, oder die Tonlage stimmt nicht mehr.“ Ein falscher Ton gibt den anderen, und oft kommt auch der andere zuerst. „Das Publikum“, beobachtet Maiwald, „hat sich doch sehr verändert. Früher war es vielen peinlich, zu uns zu gehen. Heute kommen die rein, ohne zu warten, brüllen gleich los und wollen schon morgen ihr Geld. Das sollen sie ja bekommen. Aber sie sollen auch die Menschen respektieren, die hier arbeiten.“

„Scheiße“, brüllt draußen auf dem Flur ein Mittfünfziger und zerknüllt seine Wartemarke, „dafür habe ich nun zwei Stunden gewartet.“ In den Regalen der Warteräume winken die Broschüren: „Der europäische Arbeitsmarkt steht Ihnen offen.“ In der Ecke liest einer das Springer-Blatt mit der Schlagzeile vom Tage: „200 kluge Köpfe in Berlin und Brandenburg verlieren ihren Job.“