Boris Jelzin kam, sah und siechte

Rußlands Präsident liegt wieder im Krankenhaus. Was zuerst als Grippe galt, ist jetzt eine beginnende Lungenentzündung. An Lebed und Sjuganow ging der Virus bisher vorbei  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Beunruhigende Nachrichten aus Moskau. Präsident Boris Jelzin befindet sich wieder in der zentralen Regierungsklinik am Stadtrand Moskaus in stationärer Behandlung, wo er sich schon mehrere Wochen vor seiner Herzoperation aufgehalten hatte. Ärzte stellten Mittwoch abend erste Symptome einer Lungenentzündung fest. Nach einer Sitzung mit führenden Politikern am Montag hatte Jelzin bereits alle Termine für diese Woche abgesagt.

Zunächst verbreitete der gewöhnlich (zu) optimistische Kremlpressedienst, es handele sich um eine leichte Erkältung, dann war von einer Grippe die Rede. Chirurg Renat Aktschurin, der Jelzin fünf Bypässe gelegt hatte, erklärte im Fernsehen, eine Verbindung zwischen der Operation und der jetzigen Erkrankung sei „reine Spekulation“. Auch andere Experten, unter ihnen die amerikanische Herzkoryphäe Michael Debakey spielten das Risiko für Leib und Leben des Präsidenten herunter. Darf man ihnen glauben, wird Jelzin im Laufe der nächsten Woche das Krankenhaus verlassen.

Mit halbjähriger Verspätung kehrte Boris Jelzin einen Tag vor Heiligabend an seinen Arbeitsplatz im Kreml zurück. Er gab alles, um zu beweisen, daß ein energischer und kampfentschlossener Präsident die Zügel wieder in die Hand nimmt. Doch gelang es Jelzin nicht, seine Schwäche zu überspielen. Der Präsident wirkt um Jahre gealtert, spricht langsam und bewegt sich nur schwerfällig. Ärzte und Politiker hatten ihn aufgefordert, den Einsatz nicht zu übertreiben. Anscheinend hat er deren Warnungen in den Wind geschlagen.

In den letzten zwei Wochen nahm Jelzin ein Halbjahrespensum in Angriff: Er schlug Moskau als Vermittler im Nahostkonflikt vor und bot den Japanern die Entsendung einer Antiterroreinheit nach Lima an, um die Geiseln zu befreien. Beides Unternehmungen, die eine gewisse Fehleinschätzung signalisieren, welche Rolle Moskau spielt und wozu es zur Zeit in der Lage ist. Darüber hinaus kündigte er dem Westen unnachgiebigen Widerstand an, sollte die Nato sich planmäßig nach Osten erweitern.

Innenpolitisch schwang er sich zum Pater familias auf, der durchgreift, wenn die Sippe macht, was sie will. Er ordnete an, die Wodkageschäfte in den Staatsgriff zu bekommen und säumige Steuerzahler zur Rechenschaft zu ziehen. Premierminister Wiktor Tschernomyrdin kritiserte er lautstark wegen der Finanzpolitik, die es versäumt habe, Rentnern und Staatsbediensteten Pensionen und Gehälter rechtzeitig auszuzahlen. Auch auf Nebenschauplätzen wie der Kultur agierte er. Den darbenden Museen in St. Petersburg kündigte er sein rettendes Erscheinen an. Das hätte vielleicht auch ein Subalterner übernehmen können. Jelzins paternalistischer Stil könnte ihm am Ende zum Verhängnis werden.

Unterdessen hat das Land während Jelzins fünfmonatiger Bettlägrigkeit bewiesen, daß es auch gut ohne ihn auskommt. Jedenfalls, solange feststeht, der Präsident lebt und hat das letzte Wort. Zum ersten Mal in Rußlands Geschichte übergab ein Präsident die Macht vorübergehend an den Premierminister und erhielt sie im Einklang mit der Verfassung des Landes wieder zurück. Turbulenzen blieben aus. Machthungrige Anwärter auf das höchste Amt wie General a. D. Alexander Lebed, begnügten sich damit, folgenschwere Krisen und Aufstände in Gedanken zu entwerfen. Doch das Land will endlich Ruhe, Stabilität und Prosperität. Sogar die kommunistische Opposition in der Duma lenkte ein und verabschiedete nach anfänglichen Protesten den Haushalt für 1997. Sie richtete sich schon auf drei Jahre bequeme Opposition ein, da sich an den Machtverhältnissen nicht rütteln ließ.

Und über allem thronte als graue Eminenz der Jelzinsche Stabschef Anatolij Tschubais, der die Administration mit eiserner Hand führt und die Abwesenheit seines Chefs nutzte, um aufzuräumen. Seitdem er die Steuereintreibung den Händen der Regierung entrissen hat, fließt mehr in die Staatskasse. Gerüchten zufolge fürchtet Rußlands legendäre Unterwelt den Stahlbesen im Kreml.

Sollte indes Jelzin erneut von der Bildfläche verschwinden oder sich abzeichnen, daß er nicht mehr zu Kräften kommt, um sein Amt auszufüllen, könnten die Karten neu gemischt werden. Neben der Ökonomie, die bei Tschubais in guten Händen ist, stehen entscheidende Probleme an. In Tschetschenien wird Ende Januar gewählt. Egal, wie die Wahlen ausgehen, Rußland muß besonnen reagieren. Diskussion und Reaktion dürfen nicht dem chauvinistischen Parlament überlassen werden. Das gleiche gilt für die Nato-Osterweiterung, der sich Nationalisten und Kommunisten annehmen werden, um ihre Sache zu betreiben. Beide Herausforderer Jelzins, Kommunistenchef Gennadi Sjuganow und Alexander Lebed, hatten sich eigentlich schon bis zum nächsten Wahlgang aus der großen Politik verabschiedet. Kehrt Jelzin zurück, können beide daran weiterarbeiten, ihren politischen Bedeutungsverlust sanft abzufedern.

64.000 Moskauer wurden von einem Grippevirus gepackt. An Sjuganow und Lebed ging der Kelch noch vorbei.