Nicht ich, der Boß ist es gewesen

Gestern begann der Prozeß im Entführungsfall Reemtsma. Angeklagter ist geständig und schiebt alles auf den flüchtigen Bandenchef. Anwalt versuchte Reemtsma von der Verhandlung auszuschließen  ■ Von Jan Feddersen

Hamburg (taz) – Kurz vor zehn öffnet sich die Fahrstuhltür im siebten Stock des Gerichtsgebäudes in der Hamburger City Nord. Heraus tritt Jan Philipp Reemtsma. Er ist der, auf den alle Medienleute gewartet haben. Fünf Männer, die aufnahmebereiten Kameras auf ihren Schultern oder Mikrophone wie Pistolen vor sich hertragen, gehen gleichzeitig einen halben Schritt auf ihn zu. Sie haben ihn endlich gestellt. Ein Mäzen, ein Multimillionär und irgendwie auch ein Linker: So ein Mann ist eine Sensation.

Im vergangenen Jahr wurde er 33 Tage lang in einem Keller bei Bremen gefangengehalten. Seine Entführer drohten, ihn zu ermorden, wenn sie nicht die geforderten 30 Millionen Mark erhalten. Reemtsma kam frei; zwei der mutmaßlichen fünf Täter konnten gefaßt werden. Die Meute fragt jetzt Reemtsma wie aus einem Munde: „Möchten Sie uns etwas zu Ihrem Fall sagen?“ Reemtsma schaut überrascht, als sei er wirklich erstaunt über das Interesse an diesem Prozeß. Und dann sagt er: „Selbstverständlich nicht.“

Reemtsma wirkt so ruhig, als habe er sich selbst alle Gefühle verboten, er wirkt fast starr. Er nimmt neben seinem Anwalt Johann Schwenn Platz, faltet seine Hände wie zum Gebet, hält sie sich vor das Gesicht. Als ein Wachtmeister aus der Justizverwaltung launig wie bei einer Kaffeefahrt um Ruhe bittet („Nun wollen wir uns doch bitte hinsetzen und still sein“), zeigt Reemtsma, daß auch er endlich beginnen möchte: Er rollt genervt mit den Augen. Dann geht die Verhandlung tatsächlich los.

Die beiden Angeklagten Wolfgang Koszics und Peter Richter, der eine der Mittäterschaft, der andere der Beihilfe zum Kidnapping beschuldigt, treten ein. Reemtsma, dessen Familie und Leibwächter auf den Zuschauerbänken Platz gefunden haben, schaut beide ruhig an. Er zeigt keine Reaktion, als Hans-Dieter Klumpe, Anwalt des Handelsvertreters Peter Richter, zwei umfängliche Anträge an das Gericht vorträgt. In ihnen teilt er mit, das Gericht möge erstens Thomas Drach als Zeugen laden und zweitens dem Entführungsopfer „aus Gründen des guten Stils und zur Vermeidung des bösen Scheins“ erst dann zu erlauben, an der Verhandlung teilzunehmen, wenn er selbst als Zeuge auszusagen habe.

Klumpe hält seinen absurden Antrag, der im Zuschauerraum mit Kopfschütteln quittiert wird, im Stil eines salbungsvollen Predigers. Er dreht sich nach jeder gelungenen Formulierung zum Publikum hin und erhöht seine Stimme, als er davon berichtet, daß sein Mandant es „fürchterlich und entsetzlich“ findet, „was mit Herrn Reemtsma passiert“ sei. Zugleich sagt er aber, Peter Richter habe Haftverschonung verdient, denn er sei von Thomas Drach mehr oder weniger gezwungen worden, an der Entführung teilzunehmen. Otmar Kury, Anwalt des hinlänglich vorbestraften Wolfgang Koszics, aber will sich dieses Ansinnen „nicht zu eigen machen“. Vom Antrag, Reemtsma aus dem Gerichtssaal zu bitten, „distanziere“ er sich. Reemtsma, der während Klumpes Referat ein wenig steif auf seinem Stuhl wurde, entspannt seinen Rücken nach dieser anwaltlichen Kollegenschelte.

Danach trägt Wolfgang Koszics persönlich vor, welchen Part er bei der Entführung gespielt hat – und vor allem was sein Anteil an der 33tägigen Verschleppung Jan Philipp Reemtsmas gewesen war. Der 55jährige hat sich gut vorbereitet. Er berichtet in feinstem Schriftdeutsch, daß Thomas Drach, der Kopf der Entführerbande, seine Geldnot ausgenutzt habe, um ihn zur Teilnahme zu bewegen. „Er hat auch gesagt, als ich nicht mehr wollte, ,stell dich nicht so an‘.“ Auch Koszics zeigt keine Gefühle. Er sagt nur das, was die Ermittler schon zuvor herausgefunden haben: „Ich habe mitgemacht“, immer weiter und bis zu seiner Festnahme. Seinen Mitangeklagten belastet er nicht. Im Gegenteil. Richter habe sich mehrmals während der Entführungsphase gesträubt, von Drach Order anzunehmen, sei aber dennoch dem Boß brav gefolgt. Koszics ist geständig und muß mit zehn Jahren Haft rechnen. Am Ende sagt er lapidar: „Das war's.“ Für sein Opfer fand er kein einziges Wort des Bedauerns. In den nächsten Verhandlungstagen wird es nur noch darum gehen, die jeweiligen Tatanteile der beiden Angeklagten zu gewichten. Der Hauptschuldige Thomas Drach ist flüchtig, sein Aufenthaltsort nicht bekannt. Fast das gesamte Lösegeld in Höhe von 30 Millionen Mark ist nach wie vor nicht wiederaufgetaucht. Auf Drachs Kopf ist eine Belohnung von knapp einer Million Mark ausgesetzt. Deshalb zeigt sich Staatsanwalt Peter Stechmann in den TV-Interviews optimistisch: „Wir fahnden weiter.“