„Schäuble ist ein Protagonist des Verzichts“

■ Der Sozialpsychologe Professor Heiner Keupp über Wolfgang Schäubles Verständnis seiner körperlichen Behinderung und ihre politische Signalwirkung in der Öffentlichkeit

taz: Welche gesellschaftliche Wirkung kann es haben, wenn sich der Rollstuhlfahrer Schäuble als Kanzlerkandidat anempfiehlt?

Heiner Keupp: Auf den ersten Blick würde ich als jemand, der der Behindertenbewegung verbunden ist, sagen, daß es ein positiver Durchbruch für die Behinderten in Deutschland ist. Auf den zweiten Blick rücke ich davon aber wieder ab. Schäuble verkörpert den asketisch verkniffenen Kompensierer seiner Behinderung. Das ist eine Lebensstrategie, die er mit absolutem Recht so wählt. Aber unter dem Aspekt der Symbolwirkung repräsentiert er eine Verzichtsmoral. Das ist Teil seiner politischen Botschaft.

Ist sein ehrgeiziges Streben ins Kanzleramt wegen seiner „Behindertenbiographie“ entstanden?

Schäuble galt unter vielen politischen Beobachtern immer als der heiße Kandidat für die Kanzlernachfolge innerhalb der CDU. Schäuble pflegt einen Habitus, der die Leistungsgesellschaft geprägt hat, eine Mischung von protestantischer Ethik und unbegrenzter Hoffnung auf die Leistung des kapitalistischen Systems. In dieser besonderen Variante, die er jetzt verkörpert, betreibt er eine spezifische Form moralischer Politik. Er bedient einen gefährlichen Gemeinschaftsdiskurs, demzufolge wir wieder lernen müssen, unter Bedingungen von Not und Schicksal näher zusammenzurücken. Opfer bringen, heißt die Devise.

Was heißt seine mögliche Kandidatur für die symbolische Ordnung der Bundesrepublik, wenn ein Rollstuhlfahrer Bundeskanzler werden sollte? Zieht er Wähler an, weil er Behinderter ist, oder werden gerade deswegen mögliche Wähler verschreckt?

Wenn man mit Leuten aus der Wirtschaft Zufallsgespräche führt, schlägt einem gelegentlich die Position entgegen, daß ein Land, das sich einen Kanzler leistet, der nicht die volle Vitalität und Stärke demonstriert, ein gehandicaptes Land ist. Vielleicht steht Schäuble aber auch für eine ganz andere Subbotschaft, die nicht auf der ersten Ebene transportiert wird, nämlich: Deutschland muß seine alten Tugenden, Arbeit, Leistungsbereitschaft und Verzicht, voll auspacken. Wolfgang Schäuble ist durch seine Behinderung so gesehen ein Protagonist des Verzichts.

Hätte Schäubles Kandidatur eine Signalwirkung für die Behinderten selbst?

Sicher in einer sehr ambivalenten Weise. Die Behinderten sind ja keine homogene Gruppe. Es handelt sich um ein plurales, milieuspezifisches Publikum, wie es für die gesamte Gesellschaft gilt. Er wird in der Behindertenszene bestimmte Gruppierungen positiv ansprechen. Es wird aber auch andere Gruppen geben, die die reduzierte Form von Lebensansprüchen, die er auch verkörpert, als kontraproduktiv für eine selbstwußte Krüppel- oder Behindertenbewegung betrachten.

Wird die Frage nach dem Behinderten an der Spitze der Regierung als eine gesellschaftspolitische diskutiert werden?

Wenn Schäuble offiziell seine Ansprüche auf die Kanzlerschaft anmeldet, wird das Thema an den Stammtischen verhandelt werden. Ebenso wird man in den Wirtschaftsetagen nach der Symbolwirkung fragen. Ich erwarte nicht, daß es in einem stigmatisierenden Sinne öffentlich diskutiert wird. Interview: Harry Nutt