Lockende Versuchung

■ Kärrner des Kanzlers und Freund - auch politischer Erbe? Wolfgang Schäuble, CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender und Kronprinz Kohls, hat mit präzis abgewogenen Worten im "Stern" seine Ansprüche bekräftigt Aus Bonn Bettina Ga

Lockende Versuchung

Die Frage, mit der er jetzt rechne, die „können Sie sich sparen“, blaffte Bundeskanzler Helmut Kohl gleich zu Beginn der Bundespressekonferenz gestern die Bonner Journalisten an. Sein Auftritt hier habe gar nichts mit irgendwelchen Äußerungen in irgendwelchen Zeitungen zu tun. „Ein Interview führt nicht automatisch dazu, daß ich eine Pressekonferenz mache.“

Das hatte bis dahin auch niemand unterstellt. Der Regierungschef gab nur preis, welch hohe Bedeutung er selbst der Titelgeschichte des Stern über Wolfgang Schäuble beimißt. „Wahrscheinlich würde ich der Versuchung nicht widerstehen“, wird darin der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag zitiert. Die Versuchung: das Amt des Bundeskanzlers, wenn es auf ihn „zutreibt“.

Der 54jährige Jurist aus dem Badischen wird seit Jahren als „Kronprinz“ gehandelt. Er hat es als nahezu einziger politisch überlebt, daß ihm von den Medien die Fähigkeit bescheinigt wird, Kohls Nachfolge anzutreten. Andere mögliche Rivalen hat der amtierende Regierungschef weggebissen, weggelobt, wegtaktiert. Schäuble nicht. Der steht ihm auch menschlich nahe.

„Es ist eine emotionale Bindung“, sagte Helmut Kohl gestern auf der Bundespressekonferenz. „Wir sind Freunde.“ Den Lebensweg sei man „ein ganzes Stück“ zusammen gegangen. Dann ließ der Regierungschef wichtige Stationen der gemeinsamen Arbeit Revue passieren.

Wurden die Journalisten Zeugen eines Abschieds auch von diesem Weggefährten, wehmütig vielleicht, aber dennoch radikal? Oder hat der Kanzler nun seinen Erben präsentiert?

„Helmut Kohl weiß, daß ich ihn niemals bescheiße“, sagt Wolfgang Schäuble im Stern. Sieht der das genauso – oder fühlt er sich betrogen? Waren die Äußerungen mit Helmut Kohl abgesprochen oder nicht?

Darüber wird in Bonn in den nächsten Tagen trefflich gestritten werden. Inhaltlich ist an den Spekulationen selbst nichts neu. Selbst im offiziösen Munzinger-Personenarchiv wird über Bonner Gerüchte im September 1992 berichtet, denen zufolge „Schäuble die FDP bewußt verprellen (wolle), um den Weg zu einer Großen Koalition – mit ihm selbst als Kanzler – zu ebnen“. Ende 1995 stand im Spiegel: „Die Große Koalition wäre Schäubles Chance.“ Gestern nun kommentierte die Süddeutsche Zeitung: „Als Kanzler einer Großen Koalition mit der SPD stünde Kohl kaum zur Verfügung. Das wäre die Stunde Schäubles, und sie kann bei steigenden Arbeitslosenzahlen und sich verschärfenden Finanzproblemen schnell dasein.“

Vielleicht. Aber die Frage, wann die Amtszeit von Helmut Kohl als Regierungschef zu Ende gehen wird, hat mit dessen persönlicher Befindlichkeit mindestens ebensoviel zu tun wie mit politischen Rahmenbedingungen. Die hat sich in den letzten Jahren geändert. Vom pragmatischen Taktierer ist wenig geblieben. Das Erscheinungsbild des Kanzlers bewegt sich heute zwischen erkennbarer Amtsverdrossenheit und präsidialem Höhenflug.

Es ist immer mißlich, wenn einer in seinem Job nichts mehr erreichen kann. Die respektvollen Würdigungen im letzten Jahr, als Helmut Kohl den „ewigen Kanzler“ Konrad Adenauer mit der Dauer seiner Amtszeit überrundete, lasen sich wie Nachrufe.

Der Regierungschef selbst hat nichts getan, um diesem Eindruck entgegenzuwirken. Wie sollte auch ausgerechnet einer, der über Jahre hinweg wortgewaltig einen „historischen Augenblick“ an den anderen reihte, sich noch zu Leidenschaft für sein Amt aufschwingen können, wenn das in kaum etwas anderem mehr besteht als der Verwaltung einer Dauerkrise?

Vom vereinten Europa träumt Kohl seit langem. Die Wiedervereinigung Deutschlands hat er – auch er – erreicht. Der europäischen Vision stehen die Deutschen mißtrauisch gegenüber. Die Freude über das Ende der deutschen Teilung ist im Kulturschock des Zusammenlebens der sich fremd gewordenen Geschwister erstickt.

Helmut Kohls Etikett in den Geschichtsbüchern steht seit langem fest. Ob ihm die deutsche Einheit in den Schoß gefallen ist oder ob es als Beweis seiner politischen Weitsicht gelten kann, daß er die Gunst der Stunde nutzte – darüber mögen Historiker streiten. Der Platz für die kollektive Erinnerung einer Nation ist immer nur stecknadelgroß. Übrig bleibt stets nur ein Schlagwort. Hier: Kanzler der Einheit.

Kurz vor dem Attentat auf Wolfgang Schäuble im Oktober 1990, das ihn in den Rollstuhl zwang, hatten die Medien auch ihm ein Etikett zugedacht: Architekt der Einheit. Er war federführend an der Abfassung des zweiten deutschen Staatsvertrages vom 1.August 1990 beteiligt gewesen.

Helmut Kohl hat viele seiner politischen Erfolge Wolfgang Schäuble zu verdanken, vor allem dessen Fleiß. Wo der Amtsinhaber gern über das Große und Ganze sprach, ließ der mögliche Nachfolger nie die Details außer acht. Als er im April 1989 zum Innenminister ernannt wurde, trat er ein schwieriges Erbe an. Streitpunkte innerhalb der Koalition waren damals vor allem das Asylrecht, Sicherheitsgesetze und die Ausländerpolitik.

Schäuble zeigte, daß er Verhandlungsgeschick mit Härte in der Sache zu verbinden vermag. Ihm gelang nicht nur die Einigung mit Altliberalen wie Burkhard Hirsch und Gerhart Baum bei der Frage des Ausländerrechts, sondern er suchte auch das Gespräch mit der Opposition bei der Diskussion über die Asylpolitik. Die Aushöhlung dieses Grundrechts bis zur Unkenntlichkeit ist Teil seiner persönlichen Erfolgsbilanz.

Vielleicht aber sind es die Niederlagen weit mehr noch als die Erfolge, die Wolfgang Schäubles Chancen auf das mächtigste Staatsamt so groß erscheinen lassen. Der Politiker, der seine Fraktion seit November 1991 führt, gilt als unduldsam mit anderen und hart gegen sich selbst. Nach dem Anschlag hing sein Leben tagelang am seidenen Faden. Gerade sechs Wochen später nahm er die Arbeit wieder auf.

Wer sich sogar durch einen so schweren Schlag nicht zu Boden strecken läßt, dem wird leicht Großes zugetraut. Männer „von echtem Schrot und Korn“ haben in den Zeiten der Rezession bekanntlich Konjunktur. Schäubles Aussichten, beim Wahlvolk Punkte zu sammeln, stehen heute besser als noch vor wenigen Jahren.

Der Stern hat neben den Text seiner Titelgeschichte Aufnahmen von Konrad R. Müller gestellt, einem der erfolgreichsten Fotografen Deutschlands. Dessen Karriere gründet sich bisher vor allem auf die Bilder, die er von einem anderen Mann gemacht hat: Bundeskanzler Helmut Kohl.