Veitstanz

■ Die ersten Schlittschuhe des Herrn S., der ein Eismuffel ist... Obwohl er weiß: Wer vom Eis kommt, ist glücklich

Herr S. läßt sich gern so vernehmen: „Wenn der liebe Gott gewollt hätte, daß Sein Ebenbild sich aufs Eis begibt, hätte Er den Seinen Kufen statt Füße gegeben.“ Wohl wahr: Herr S. ist ein Eismuffel, ja sogar ein Winter-, Kälte-, Schlechtwetter- und nebenbei Sportmuffel sowie ein Stürz-, Beineverknick- und Ellbogenramponiermuffel. Andererseits ist Herr S. ein Glückssucher vor dem Herrn, und nicht ohne innere Verwirrung mußte er sich vor wenigen Tagen eingestehen, daß Menschen, die vom Eis kommen, glücklich wirken. Es schmücken sie rote Backen, sie riechen nach kalter Luft, und ihre Augen glänzen wie frische Kastanien. Alles untrügliche Zeichen von Glücksnähe, womöglich Glücks-teilhabe.

Es tat also Herr S., was er ungern tut: was alle tun. Er suchte Schuhgeschäfte auf, in denen er zu hören bekam: Ha ha ha. Ha ha ha. Ha ha ha. Vielleicht nächstes Jahr. Er suchte Schuhgeschäfte im Umland auf. Er führte Ferngespräche. Nur um immer wieder zu hören: Ha ha ha. Ha ha ha. Ha ha ha. Vielleicht nächstes Jahr. Manchmal auch: Die Bremer waren schon da. Doch der Wille des Herrn S. war unbezwinglich, und so kam es zum Erfolg. In einer völlig unterschätzten Ortschaft namens Gnarrenburg (Kreis Rotenburg/Wümme, Altkreis Bremervörde) fand er sie. Riesengroß. Schwarz. Glänzende Kufen. 85 Mark. Sie hießem Jürgen. Alle beide.

Sie hießen Jürgen. Alle beide.

Eigentlich hätte hier die Geschichte zu Ende sein können. Herr S. und seine beiden Jürgen! Sie hatten sich gefunden, das Glück war vollkommen. Was wollte man mehr?! Und doch. Und doch gab es da den Knaben Y. Der Knabe Y. hatte frisch das Schlittschuhlaufen erlernt, am ersten Tag fiel er, am zweiten Tag stand er, am dritten Tag fuhr er wie ein junger Gott. Ein gänzlich unbekanntes Gefühl erwachte in Herrn S., nennen wir es: sportlicher Ehrgeiz. So begab es sich, daß eines Tages ein Fischteich in der Ortschaft Ehebrock (Kreis Rotenburg/Wümme, Altkreis Bremervörde; der Name leitet sich wahrscheinlich leider von dem Wort „Ehebruch“ ab) Zeuge wurde, wie Herr S. sich aufs Eis wagte.

Dem Wagen aufs Eis geht in jedem Fall das Anziehen der Schlittschuhe voraus. Durch scharfes Beobachten geübt erscheinender Mitschlittschuhläufer entdeckte Herr S., daß das Anziehen der Schlittschuhe ein zeitraubender sowie ritualisierter Vorgang ist, bei dem es darauf ankommt, daß die Schnürriemen so fest angezurrt werden, daß in den betroffenen Füßen auch gewiß kein Blut mehr zirkuliert. Haben die Füße etwa noch Platz im Schuh, werden dicken Wollsocken hineingezwängt. Die lange erwarteten ersten Schritte hin zum Eis erschienen Herrn S. denn auch wie das Gehen eines Kriegsversehrten.

Gestürzt, belächelt, behämt

Einmal auf dem Eis angelangt, lernte Herr S. binnen weniger Sekunden die physikalische Grundproblematik des Schlittschuhlaufens kennen: Schlittschuhlaufen ist eine im Grunde nur theoretisch mögliche Bewegungsform, die sich, wenn überhaupt, in dem kufenbreiten statischen Moment zwischen Vorwärtsstürzen und Rückwärtsstürzen ereignet. Einfacher ausgedrückt: Herr S., belächelt und behämt vom Knaben Y., stürzte kopfüber aufs immerhin tragende Fischteicheis, um sich aufzurappeln, um rücklings aufs Hinterteil zu stürzen und sich dabei aller Wahrscheinlichkeit nach einen komplizierten Splitterbruch des Ellbogens zuzuziehen.

An dieser Stelle würde die Geschichte ein folgerichtiges und eigentlich wunderschönes Ende finden können im Sinne einer der Volksgesundheit dienenden Mahn- und Warnschrift – wenn der unbezwingbare Glückswille des Herrn S. nicht gar so übermächtig gewesen wäre. Alles sprach gegen eine Fortsetzung des – ja – Experimentes, die Füße jammerten unter den ungekannten Drücken, die Aufschlagstellen am Körper schmerzten, die Umstehenden, in Sonderheit junge Damen in der Phase der Frühpubertät, grinsten, sogar begann das Eis an manchen Stellen zu reißen, und unter dem Eis schien ein Gott oder Gespenst zu mahnen, indem er oder es merkwürdige Geräusche ausstieß, einem Rülpsen nicht unähnlich. Das Wesen wurde von den Umstehenden lautmalerisch als „Nöck“ bezeichnet, was Herrn S. keineswegs beruhigte. Alles zusammengenommen hätten auch weniger abergläubige Menschen als Herr S. an Warnzeichen gedacht. Doch in all dem Hockeln und Stockeln, Stolpern und Stürzen, Aufrappeln und Wegrutschen, Armrudern und Hinklatschen waren auch Momente, in denen plötzlich Herr S. fuhr, sich fortbewegte, ja dahinglitt. Dann fing ein Rieseln an auf dem Rücken, rieselte durch die Hinterteilshämatome bis in die abgestorbenen Zehen, und dieses Rieseln war nichts anderes als das gesuchte Glück und dauerte fünf, ja sechs Sekunden an.

Genau: grazil! Das ist es!

Denn wenn Herr S. ans Glückrieseln dachte, lag er schon wieder. Auch wenn er an die Sonne dachte, an den Horizont, an die Mitschlittschuhläufer, an das Ende des Fischteichs – klatsch. Kladderadatsch. Aua. Mama. Sobals Herr S. die Augen hob oder sein Denken sich vom dumpfen Erleben löste und Glücksbegriffe formulieren, ja eigentlich das Glück erst fassen wollte, griff er ins Leere. Einmal, als Herr S. ächzend auf der Seite lag und sich den geprellten Oberschenkelhalsknochen rieb, flog ihn ein Wort an: grazil. Das war's! Für Bruchteile von Sekunden stellte sich auf dem Eis das Gefühl ein, grazil zu sein. Zu schweben, der Schwere zu entkommen, auch schneller zu werden. Sehr schnell sogar. Viel zu schnell ...

Herr S. gab sich, vielleicht aus wissenschaftlichen Erwägungen, vielleicht, um es dem Knabe Y. zu zeigen, drei Tage. Am dritten Tag auf dem Eis litt er unter umfassenden Muskelschmerzen, Blasen an den Zehen, wehen Hämatomen überall, einem aller Wahrscheinlichkeit nach komplizierten Splitterbruch des Ellbogens usw. usf. Was ihn noch antrieb bzw. auf dem Eis hielt, war der schiere Geiz – geliehene Schuhe hätte er mit einer ironisch wirkenden Geste des Bedauerns eilig zurückgegeben. Am dritten Tag traf Herr S. auf dem Eis Fräulein H., die ihn meinte trösten zu können, indem sie daran erinnerte, daß sich menschliches Lernen immer nach Art der Echternacher Springprozession vollzieht. Die Wirkung dieses Trostes blieb gering, zumal sich Herr S. erinnerte, daß die Echternacher Springprozession an eine grassierende Mittelalterkrankheit erinnern soll, den Veitstanz. Und diesem ist das Bewegen des Herrn S. auf dem Eis nicht unähnlich.

Fotos: Katja Heddinga

Burkhard Straßmann