Locker vom Acker

■ Der Münchner Currywurst-Entdecker Uwe Timm liest heute aus seinem neuen Kartoffel-Roman „Johannisnacht“

Die Kartoffel ist der Prolet unter den Gemüsen und sehr deutsch. Glaubt man Uwe Timms Kartoffelrecherche, dann wurde die Kartoffel 1539 erstmals in Sevilla erwähnt. In Deutschland wuchs sie abgeschottet vom kulinarischen Volksgewissen auf - in Botanischen Gärten! Erst im 18. Jahrhundert vereinnahmten diese unförmigen Nachtschattengewächse die deutschen Äcker.

Johannisnacht beginnt damit, daß ein Schriftsteller nicht weiß, worüber er schreiben soll. Da ruft ihn ein Redakteur an und fragt, ob er nicht Lust habe, über die Kartoffel und deutsche Mentalität zu schreiben. Was folgt, ist eine dreitägige Odyssee durch Berlin zu jenen Tage, als Christos Reichstagsverhüllung Schaulustige aus aller Welt anzog. Zuerst wird dem kartoffel-recherchierenden Mittfünfziger die Frisur verkatschelt, dann verliert er den „Geschmackskatalog“, das Lebenswerk eines verstorbenen Kartoffelforschers. Später begegnet er einer Telefonsexfrau, die alte Männer „ehrlich toll“ findet. Am Ende sind ihm bulgarische Waffenschieber auf den Fersen. Fast ohne Ausnahme tritt der Alt-68er-Clown bei seinen Erlebnissen in die Gutmütigkeits-Falle.

Uwe Timms frühen Romane hatten die Studentenbewegung (Heißer Sommer, 1974) und die deutsche Kolonialpolitik in Südwestafrika (Morenga, 1978) am Wickel. In seinen neueren Werken (etwa Die Entdeckung der Currywurst, 1993) hat er sich zunehmend dem Erzählen von Alltags-Geschichten verschrieben. Timm praktiziert eine Annäherung an den „Volkshumus“ (O-Ton Timm) und hat dabei nicht Small-talk-Gefasel, sondern richtig gute Geschichten im Ohr.

Annähernd dreißig davon, teilweise in Berliner Mundart aufgezeichnet, kommen auch dem umherirrenden Anti-Helden in Johannisnacht zu Ohr und treiben die Handlung des locker und stilsicher geschriebenen, letztlich aber zu braven Buches an. Auch wenn Uwe Timm die Berliner Christo-Zeitzone mit ausnahmslos der Real-Zeit angepaßten Charakteren ausfüllt, wirkt das Ganze, erst eineinhalb Jahre später, nostalgisch.

Diese Wirkung ist in der milden Sympathie begründet, die der unrettbar ehrliche Held gegenüber Haste-ma-ne-Mark-Stehern, grauhaarigen Putzfrauen, schnauzbärtigen Abzockern hegt. Im grellfarbig malträtierten Berlin-Bild unserer Tage muß sich ein solcher Charakter so falsch plaziert wie ein Kartoffelkäfer im Flipperautomat fühlen. Am Ende ist er dann auch froh, zurück zu Frau und Kindern nach München zu reisen.

Stefan Pröhl

heute, 20 Uhr, Literaturhaus