Noch im Sturz graziös

■ Letzter Glanz in Wiens dürrer Theaterlandschaft: George Taboris vorerst letzte Aufführung am Burgtheater: Die drei Einakter "Die letzte Nacht im September"

Ein alter Mann treibt Gymnastik in seiner Studierstube. Immer wieder auf und nieder im Rhythmus einer unerträglich optimistischen Lautsprechermusik. Immer wieder „Wochenend' und Sonnenschein“ bis ins Taumeln nach einer verfehlten Bewegung. Der Tanz eines Greises, der seine Gebrechen an und auf sich genommen hat. Noch im Sturz wirkt er graziös und nie lächerlich, jedenfalls weniger lächerlich als all die jungen, gebräunten und gebuildeten Körper, die sich durch die Qualen der Fitneß gegen Krankheit und Verfall zu panzern versuchen. Was jetzt kommt, handelt vom Tod.

Ernst (Otto Tausig) macht Ernst. Der Held im ersten von drei Einaktern, die George Tabori am Wiener Akademietheater zu seiner vorerst letzten Uraufführung „Die letzte Nacht im September“ zusammengefaßt hat, ertüchtigt seinen Körper für den letzten Gang. Eine ziemlich unspektakuläre Einübung in das Ende. Kein Weh und Ach in Todesangst, keine verzweifelte Lebensbilanz. Nicht die Hauptsache schreckt am Sterben, es sind die Details, die momentanen Befindlichkeiten, die Panik verursachen. „Einäschern? Oder lieber doch nicht.“

Der diskrete Umschlag mit der Pille aus Amsterdam liegt seit längerem bereit. In einer einsamen Nacht hat ihn die längst überwundene Todesangst wieder gepackt, deswegen will er. Dabei gibt es keine „objektiven“ Gründe für seinen Wunsch nach selbstbestimmtem Sterben gerade jetzt. Nicht mehr Schmerzen als üblich, keine dramatisch verschlechterten medizinischen Befunde.

Seine Lebens- und Liebesbilanz gerät so überwirklich, grell und entmischt wie die auf Grundfarben reduzierten Texturen des Bühnenbildes von Peter Lerchenbaumer. Ernsts aktuelle Ehefrau (Kitty Speiser) ist schon jetzt ohne Trost auf Alkohol. Eine frühere zerstört auch noch die komfortable Gewißheit der Geschlechterdifferenz. Ausgerechnet Esmeralda, die betthüpfende Sopranistin, hat sich zu einem Kerl umoperieren lassen, einem ziemlich vierschrötigen (Peter Matic). „Abgeschmackte Witze“, beklagen ein paar „feine Leute“ in einem Publikumsinterview nach der Premiere im Rundfunk. Was aber bleibt, was im Tode kein Witz ist? Literatur? William Shakespeare vielleicht. Der moderne Mythos vom selbstbestimmten Sterben gehört jedenfalls nicht dazu. „Im Theater wird nicht gestorben“, bedeutet der Inspizient aus der Kulisse herbeieilend und nimmt Ernst die Giftkapsel weg.

Wahr ist zumindest die Illusion der Bühne für die Zeit der Aufführung. Auf offener Szene läßt Tabori für die nächste Episode umbauen. Die Bücherwandattrappen der grellbunten Studierstube verschwinden im Schnürboden. Es erscheint ein Wiener Kaffeehaus in seinen Unfarben: grau, braun, schwarz. Darin eine Szene aus dem Geistesleben der Stadt. Zwei spiegelbildliche Figuren treten auf, Otto Tausig und Peter Matic identisch gekleidet, geschminkt und mit Text ausgestattet, lesen Zeitung. Im gedeckten Anzug, feist und nasenbärtig entsprechend die beiden Herren in verblüffender Weise dem „Herrn Strudl“. Das ist eine Karikatur, die in etwa dem deutschen Michel entspricht und in Wiens auflagenstärkster Boulevardzeitung mit wohlformuliertem Schmäh die Ressentiments von „Volkes Stimme“ zum besten gibt. Was wiederum nur in seltensten Fällen als Karikatur gemeint ist.

Die beiden Herren in Taboris Kaffeehaus üben sich in einer Disziplin, die auch nach über einem Jahrjundert nach dem „Radau-antisemitismus“ im Wien der Jahrhundertwende nie ganz aus der Übung gekommen ist: Das „blöd Reden“, heutzutage meist nur unter vorgehaltener Hand, aber deswegen nicht weniger lustvoll. Nur sind hier plötzlich die Grenzen verwischt. Beide Herren, ein gewisser Dr. Grisby und ein gewisser Dr. Hollunder, werfen einander in identischen Sätzen vor, von der anderen Seite der Donau, sprich aus dem ehemaligen jüdischen Viertel der Stadt, zu stammen und sich jeweils zu Unrecht mit „arischen“ Namensehren zu schmücken.

In diese Konversation bricht die Erscheinung eines Jungen in KZ- Häftlingskleidung herein (Ute Springer). Er bitte in einer fremden Sprache offenbar um etwas zu Essen, während die beiden Herren Freundliches über den „ausländischen Mitbürger“ schwafeln. Die freundlich-kurzsichtige Exekutive trägt den Eindringling aus dem Kaffeehaus Österreich fort, dieser lächelt dabei verklärt in der Pose eines Barockengels. Noch einmal eines dieser entwaffnenden Bilder des Tabori-Theaters. Nur Tabori kann letztlich Tabori inszenieren. Jedem anderen würde diese riskant ausbalancierte Provokation zu einem Lichterketten- und Gutmenschen-Klischee entgleiten. Die humane Substanz hat sich in dieser Episode hingegen ganz in eine Nebenfigur geflüchtet, die anrührende böhmische Kellnerin der großartigen Kitty Speiser. Auch sie hat ein musikalisches „Leitmotiv“. „Dein ist mein ganzes Herz“ aus der Juke-Box. In der Lüge schaffen Schmalz und Schund Wahrheit für zweieinhalb Minuten.

Für „Die letzte Nacht im September“ hat George Tabori seine Dauersymbiose mit Gert Voss zeitweilig aufgegeben. Mit dem wiederentdeckten Charakterkopf Peter Matic, vor allem aber mit Otto Tausig, dem begabtesten der „wienerischen“ Wiener Schauspieler, hat Tabori seine Wirkungen pointiert um das „volkstümliche“ Fach erweitert.

Der letzte Akt des Tabori- Theaters erhebt die Kunst selbst zum Gegenstand. Macht und Ohnmacht des Theaters packt er in eine einfache Schauspieleranekdote. Shakespeare (Peter Matic), bislang nur in Gips vorhanden, nun leibhaftig, scheitert am Publikum, das längst gegangen ist, an seinem neurotischen Hauptdarsteller (Otto Tausig) und beschließt, sich zum Abfassen seiner Autobiographie zurückzuziehen. Taboris letztes Stück über Tod, Liebe und Theater – es ist ein letztes, auch wenn er hoffentlich noch weitere Texte schreibt – verschafft der dürren Wiener Theaterlandschaft den schönsten und zugleich irritierendsten Abend seit langem. Uwe Mattheiß