Blutende Steingesichter

■ „Warchitecture – Sarajewo, eine verwundete Stadt“ – Eine Fotoausstellung in der HfbK zeigt die Spuren des Bombenhagels

Mai 1992: Kurz nach Kriegsausbruch entschließen sich Architekten aus Sarajewo, die Zerstörung ihrer Stadt zu dokumentieren. Entstanden ist die Ausstellung „Warchitecture – Sarajewo, eine verwundete Stadt“ mit Fotografien aus dem ersten Kriegsjahr. Die 90 Schwarzweißaufnahmen zeigen ehemals prachtvolle Bauten aus dem 16. Jahrhundert bis hin zu 70er-Jahre-Wolkenkratzern wie das „Parlament der Republik Bosnien-Herzegowina“. Hier läßt die aufgerissene Fassade erahnen, daß – wie auf exakten Skizzen und Diagrammen dokumentiert ist – hier über zwanzig Projektile ein Ziel fanden; beim Verwaltungsgebäude nebenan waren es sechzig. Selbst die „Moschee von Gazi-Husref Bey“, erbaut 1521, bekam gut vierzig Granaten ab, allein zwanzig Treffer durchschlugen die Kuppeldächer der Moschee.

Die Zahlen sind eine notwendige Ergänzung zum Augenscheinlichen, um sich den Wahnsinn des Bürgerkrieges in Jugoslawien klarzumachen. Die Bilder allein wirken teilweise wie pittoreske Ruinen- idyllen. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, daß einem alten Palais von 1912 ein Erker der viergeschossigen Fassade weggerissen wurde.

Eine seltsame Art des Grauens. Im Gegensatz zu vielen Fernsehbildern, die mit herangezoomten Minenopfern platt schockieren wollen, zeigt diese Ausstellung menschenleere Fotos, die weitaus subtiler und nachhaltiger berühren. Steinerne Fassaden werden nach und nach zu schreienden Gesichtern.

Die Ausstellung wurde erstmals „unter schwierigsten Bedingungen“ während des Krieges 1993 in Sarajewo selbst gezeigt. Damals trug eine Infotafel die Aufschrift: „150.000 bombs for 300.000 citizens of Sarajewo“. Einem Besuch des Chefredakteurs einer französischen Architekturzeitschrift ist es zu verdanken, daß die Dokumentation 1994 in Paris gezeigt wurde. In der Zwischenzeit mußte nun von „2.600.000“ Bomben gesprochen werden. Bis zur Ausstellung in München im November 1995 hatte man schließlich 4 Millionen Bomben gezählt. Angesichts dieser außerhalb jeder Vorstellung liegenden Zahlenkolonnen bleibt es unbegreiflich, wie unter diesen Greulen überhaupt Leben möglich war – mitten im Europa der 90er Jahre.

Mehrere hundert Artilleriegeschütze zerstörten in wenigen Monaten ein in 500 Jahren gewachsenes Sarajewo, welches in diesem Jahrhundert zwei Weltkriegen standzuhalten vermochte.

Klaus Rathje

bis 7. Februar in der Hochschule für bildende Künste, tgl. 9.00 bis 19.00 Uhr; Katalog: 20 DM