Menschenrechte in Europa vor dem Kadi

■ Zahl der Fälle steigt jedes Jahr. Beschwerden vor allem gegen Türkei

Straßburg (AFP) – Bei der Menschenrechtskommission des Europarates in Straßburg hat die Zahl der Beschwerden gegen die Türkei im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Dies gab der Stellvertretende Sekretär der Kommission, Michel de Salvia, gestern bei der Vorlage der Jahresstatistiken 1996 bekannt.

Insgesamt habe die Kommission im vergangenen jahr 4.758 Beschwerden über mögliche Menschenrechtsverletzungen registriert – gegenüber 3.481 im Jahr zuvor. 562 davon beträfen mögliche Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Damit habe sich die Zahl der Beschwerden in der Türkei gegenüber dem Vorjahr (214) mehr als verdoppelt. Viele dieser Klagen wurden den Angaben zufolge von Kurden eingereicht, die den türkischen Sicherheitskräften Folter oder Zerstörung ihrer Dörfer vorwerfen.

Aber auch immer mehr Bürger aus den Reformrepubliken des ehemaligen Ostblocks, die im Laufe der vergangenen Jahre in den Europarat aufgenommen wurden, wenden sich an die Straßburger Menschenrechtshüter. So gingen beispielsweise 458 Beschwerden aus Polen beim Europarat ein, 77 aus der Tschechischen Republik und 80 aus der Slowakei. Nach einer ersten Prüfung wurden im vergangenen Jahr 624 Beschwerden für zulässig erklärt. Voraussetzung dafür ist unter anderem, daß der nationale Rechtsweg erschöpft ist.

Die Menschenrechtskommission bemüht sich zunächst um eine gütliche Einigung zwischen Beschwerdeführer und dem beklagten Staat. Kommt diese nicht zustande, kann sie die Fälle vor den Gerichtshof für Menschenrechte bringen. Dessen Urteile sind für die beklagten Länder bindend.

Der Gerichtshof, dem je ein Richter aus den Mitgliedsstaaten angehört, hat im vergangenen Jahr 126 Urteile gefällt. In 39 der Verfahren stellte er zumindest eine Menschenrechtsverletzung fest. Verurteilt wurden beispielsweise die Türkei wegen Folter an einem Kurden; Österreich, weil einem dort lebenden Türken die Sozialhilfeleistungen verweigert wurden; Frankreich wegen der Abschiebung einer Gruppe von Soma-

liern.

Als Menschenrechtsverletzungen wertete der Straßburger Gerichtshof auch ein mehrjähriges Berufsverbot gegen eine kommunistische deutsche Lehrerin. Im September wiesen die Straßburger Richter das Land Niedersachsen an, der Studienrätin 222.640 Mark Schadenersatz zu zahlen. Derzeit sind beim Gerichtshof 145 Fälle anhängig, etwa 40 Prozent mehr als im Jahr zuvor.

Vor den Straßburger Instanzen können Bürger klagen, die sich als Opfer einer Menschenrechtsverletzung durch ein Mitgliedsland des Europarates erachten. Voraussetzung ist allerdings, daß der fragliche Staat die europäische Menschenrechskonvention ratifiziert hat. Dies haben bislang 34 der 40 Mitgliedsländer getan. Die übrigen haben die Konvention zwar unterzeichnet, das Ratifizierungsverfahren aber noch nicht abgeschlossen.

Wer in Straßburg recht bekommen will, braucht allerdings Geduld. Die Prüfung der Beschwerden durch Menschenrechtskommission und Gerichtshof dauert im Durchschnitt fast fünf Jahre.