Die Selbstständigkeit der Buchstaben

■ Nessi Tausendschön stellte im Schmidt ihre neue CD „Madame Cellophan“ vor

Buchstaben werden autonom, wenn Nessi Tausendschön singt. Das „s“ summt oder zischelt, und ein „r“ rollt selten allein. Das „i“ dreht eine Pirouette, bevor die Stimme auf dem „t“ am Wortende landet. Im Armee-Kleppermantel steht Nessi Tausendschön auf der Bühne im Schmidt Theater und erklärt sich „wegen des miesen Männermaterials“ außer Stande, Liebeslieder zu singen. Für einen sozialistischen Kampfmarsch reiche es gerade noch, aber nur, wenn die Zuschauer mitsingen.

Sprach's, und schraubte die Stimme so hoch, daß selbst die geübtesten Genossen kapituliert hätten. Also doch Solo-Gesang, und schließlich doch Liebeslieder. Ihre neue CD „Madame Cellophan“ ist ohnehin voll davon, und die wollte Annette Maria Marx alias Nessi Tausendschön ja eingentlich präsentieren.

Mit dem Armeemantel legt die Musikkabarettistin auch die spröde Ausstrahlung ab. Samtrot gewandet sitzt Annette Marx auf dem Flügel und singt Schnulzen von Friedrich Hollander und Filmschlager von 1935. Blues und ein bißchen Jazz wechseln sich ab mit spanischer Folklore und Texten über moderne Beziehungskisten. Dabei ist es eigentlich egal, was Nessi Tausendschön singt. Die Künstlerin bringt Schnulzen genauso überzeugend wie Chansons oder Lieder über Minderwertigkeitskomplexe moderner Frauen. Zu Musik aus der Rocky Horror Picture Show ersetzt sie mit verstellter Stimme die halbe Filmbesetzung.

Der Gesang entschädigt dafür, daß Tausendschön in den Liedpausen immer wieder knapp an Peinlichkeiten vorbeischlittert. Mit pinker Federboa schmeißt sie sich, Bauch voran, über den Flügel und erledigt mit einem Stöckelschuh-Wurf beinahe ihren Saxophonisten. Kurz darauf macht sie einen Handstand, steppt in Badelatschen und fällt in Clown-Manier vom Bühnenrand.

So tolpatschig diese Einlagen auch wirken, und so einstudiert Marx' Witze auch klingen: Sie lockern die Stimmung und bringen das Programm weg vom ernsten Liederabend. Und vielleicht sind es gerade die Albernheiten, die das Publikum dazu bringen, schließlich auf Tausendschöns Bitte hin einen kollektiven Orgasmus vorzustöhnen.

Marx' Musiker beobachten das alles mit unbewegtem Gesicht. Die Männer an Saxophon, Contrabass und Schlagzeug lassen sich schweigend für ihre Soli beklatschen und stecken kommentarlos alle Seitenhiebe der Sängerin ein. „Liebeslieder handeln immer von Makeln, Gebrechen und Macken der Männer“, verkündet sie. Schon ein Trennungsgrund, wenn ein Kerl zu große Füße hat, „nicht wahr, Frau Gerstmeyer?“.

Antje Gerstmeyer am Klavier beschränkt sich aufs Spielen und behält ihre Meinung lieber für sich. Sie ist, wie die Fans von Nessi Tausendschön, herbe Sätze von der Künstlerin gewohnt und allenfalls überrascht ob des braven Programmtitels Madame Cellophan und der Tatsache, daß Annette Marx überhaupt Liebeslieder singt. Bisher war die Künstlerin dafür bekannt, lautstark jeden Mann abzubügeln. Ich sing Dir in die Ohren, Kleines verkündete sie bei ihrem ersten Solo-Auftritt, mit dem sie 1989 den Bundeswettbewerb Gesang gewann. Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich auf den Prinzen scheiß! betitelte sie zwei Jahre später ihre neue Nummer.

Seitdem hat sie in mehreren Bands gesungen und die Madame Pompadour in Leo Falls gleichnamigen Musical gespielt. Bei Madame Cellophan setzt Annette Marx mehr auf Musik als auf Kabarett. Und das ist gut so. Denn wer so singen kann wie sie, könnte auch ganz auf abgedroschene Clown-Einlagen verzichten.

Judith Weber