■ Schlagloch: Kraftbrühe, bitte! Von Nadja Klinger
„In einer demokratischen Gesellschaft haben alle Bürger Rechte. Nur wer sie genau kennt – wer informiert ist –, kann sie auch eigenverantwortlich wahrnehmen.“ Aus einer aktuellen
Broschüre des Berliner
Schulsenats
Kennen Sie Kraftbrühe? Nun gut, Sie wissen, was das ist. Aber Sie kennen sie nicht wirklich. Das tun nur Menschen, die sich nicht die Zeitung in den Urlaub nachschicken lassen. Das tun nur Menschen, die bei der Frage, was das neue Jahr bringen wird, nicht über Wahlergebnisse spekulieren.
In der DDR stand Kraftbrühe in jeder Gaststätte auf dem Speiseplan. Eigentlich esse ich sie gerne: eine nicht zu fettige Brühe aus ausgekochtem Fleisch, Gemüse, satten, weißgelben Eierflocken und ein wenig frischer Petersilie. Zwar konnte ich mich nicht entsinnen, wann ich das letzte Mal Kraftbrühe bekommen hatte, die meinen Vorstellungen entsprach. Doch wie mein ganzes Leben in der DDR war auch mein Appetit von Hoffnung und Zuversicht geprägt. „Kraftbrühe, bitte!“ Immer wieder bat ich freundlich um etwas, was ich nie bekommen würde.
Brechen Sie regelmäßig Ihren Feierabend ab, bevor er richtig angefangen hat? Jagen Sie aus dem Haus und sitzen dann in einer Runde mit Menschen, mit denen Sie nichts am Hut haben? Wollen Sie mit diesen Menschen zusammen „etwas verändern“?
Ja? Dann organisieren auch Sie sich immer wieder Enttäuschungen. Voller Hoffnung suchen Sie in einer faden Brühe, auf der die Fettaugen schwimmen, nach Gemüse oder einer Eierflocke. Sie sind teilweise ernüchtert. Mit frischer Petersilie rechnen Sie schon längst nicht mehr. Zugleich sind Sie aufgebracht. Man belächelt Sie, weil Sie Politik machen wollen, anstatt zu politisieren. Sie haben selbst Schuld. Man sagt Ihnen Ihre Enttäuschungen voraus. Das enttäuscht Sie noch mehr. Wollen Sie mit mir essen gehen?
„Die Erziehungsberechtigten der Schüler haben ... das Recht, ... bei der Arbeit der von ihren Kindern besuchten Schule ... mitzuwirken und mitzubestimmen und in diesem Rahmen ihre Erziehungsinteressen wahrzunehmen“, heißt es im Berliner Schulverfassungsgesetz. In Prenzlauer Berg gibt es eine Menge mitzuwirken, damit irgendwann überhaupt irgend jemand seine Erziehungsinteressen wahrnehmen kann. Alte Schulgebäude fallen zusammen. Das Schulessen ist ungenießbar, Fachräume sind unbrauchbar, die Toiletten unerträglich. Im Schulamt sind jegliche Probleme unter den Kategorien „kein Geld“, „kein Ausweg“ oder „keine Zeit“ abgelegt. Wenn etwas passiert, dann leider nicht im Sinne der Schulen. So hat eine über 200 Schüler zuviel, während die nebenan wegen Schülermangel geschlossen wird. So fallen einerseits Stunden aus, weil Lehrer fehlen, andererseits werden Lehrer entlassen. So haben die Schulen Probleme, mit alten Lehrern moderne Lehrkonzeptionen durchzusetzen, dürfen aber keine jungen Lehrer einstellen.
Für jedes ernsthafte Problem hat die demokratische Gesellschaft etwas geschaffen, was dieses Problem überschattet. Eine Art Kraftbrühe – etwas, wohinter sich vermeintlich etwas Gehaltvolles verbirgt. Der Bezirkselternausschuß ist neben dem Lehrer- und Schülerausschuß das demokratisch legitimierte Gremium, das einen gesetzlich verbrieften Einfluß auf die Bezirks- und Landesschulpolitik hat. Günstigerweise versammelt er sich jeden Monat genau an dem Ort, wo die Probleme, die er überschatten muß, gemacht werden. Im Versammlungsraum des Schulamtes verwandeln sich diese Probleme in Tagesordnungspunkte und damit scheinbar in Aktion. Der Schweißgeruch, den manche Elternvertreter nach ihrem Arbeitstag dorthin mitbringen, geht mit dem Parfüm, das andere aus unerklärlichen Gründen aufgetragen haben, eine ermüdende Verbindung ein. Wer gähnt, senkt den Kopf. Wer nicht gähnt, ist in Gedanken gar nicht bei der Sache. Niemand hat eine aufmunternde Nachricht mitgebracht, niemand eine Idee. Alle sind guten Willens, aber davon brennt die Luft nicht. „Wir müssen mehr Forderungen stellen, uns mit Politikern anlegen und die Arbeit verschärfen“, sagt ein Mann. Andere Männer nicken, Frauen schreiben emsig mit.
Das Mandel-Gymnasium ist gerade für 4,6 Millionen Mark aufwendig saniert worden, berichtet ein Mann. Nun darf es keine 7. Klasse eröffnen. Weil dadurch zuwenig Schüler da sind, werden Lehrer abgezogen. Weil zuwenig Schüler und Lehrer da sind, ist irgendwann keine Abiturstufe mehr möglich. Dann zieht das Bezirksamt in das sanierte Gebäude ein. „Wir haben alle Formen des Protestes ausgeschöpft: Streik, Demonstration, Unterschriften, Briefe“, sagt der Elternvertreter. Die anderen sehen ihn mitleidig an oder kriechen in ihren Notizblock. „Was können wir dann noch tun?“ fragt eine Frau. „Weitermachen, lauter sein“, sagt der Mann. „Lauter sein“, schreibt die Frau auf und setzt ein Ausrufezeichen.
Eine Grundschule teilt sich mit einer anderen Grundschule den Schulleiter. Der schließt mittags in dem einen Haus sein Büro, um in das andere Haus zu gehen. In beiden Schulen stapelt sich unerledigte Arbeit. „Irgendwann soll eine zugemacht werden“, sagt eine Frau. „Wahrscheinlich mit der Begründung, daß der Schulleiter nur halb bei der Sache war.“ – „Ist doch wie bei uns!“ ruft der Mann vom Mandel-Gymnasium. „Prinzip durchschaut!“ ein anderer. „Und was haben wir davon?“ fragt eine Frau. „Wir sind schlauer“, antwortet der Mann. Sind wir nicht. Wir können nicht Teil eines Prinzips sein und es gleichzeitig durchschauen. Wir „bestimmen mit“, was längst entschieden ist. Wir laden „kompetente Gesprächspartner“ aus dem Bezirksschulamt ein. Wer auch immer kommt, es ist jemand, der lediglich die Anweisungen des Landesschulamtes erfüllt. Wir bereiten uns auf die wöchentlichen Treffen des Landeselternausschusses mit der Schulsenatorin vor. Aber die Senatorin kommt nicht.
Wir Elternvertreter gehören zu denen, die nie schlauer werden (wollen). An Orten wie dem Schulamt Prenzlauer Berg sind einerseits alle Mitarbeiter gegen „Bildungsnotstand“ und „Sparpolitik“, gegen Ingrid Stahmer und Annette Fugmann-Heesing. Andererseits sparen sie ein, was sie einsparen sollen, verschwenden, was sie verschwenden sollen, und sind terminlich verhindert, wenn der Bürger sie braucht. An Orten wie dem Schulamt Prenzlauer Berg gibt es keine Verweigerung, keinen Trotz, keinen anderen Ton als den festgelegten. Hier schwimmen die Fettaugen auf der Brühe, die der demokratisch gewählte Elternvertreter für Kraftbrühe hält. So funktioniert Politik. „Die Schüler in unseren Klassen haben weniger Auslauf, als ein Hund laut Tierschutzgesetz haben darf“, rief letztens ein Mann durch unsere Versammlung. Parolen sind laut und wirken. Wir Elternvertreter kläfften wie eingeklemmte Köter. Wir organisierten eine Demo vor dem Roten Rathaus. Es kamen so wenige, daß ich in jedes Gesicht sehen konnte. Ein Gewerkschafter verlangte die „Einsparung des Senats“. – „Sollten wir immer das Maximale fordern?“ fragte der einzige Elternvertreter, den ich finden konnte.
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