Wiedervereinigung per Volksentscheid

Präsident Boris Jelzin will die Bürger Rußlands und Weißrußlands über ihre Vereinigung abstimmen lassen. Damit antwortet der Kreml auf die geplante Nato-Osterweiterung  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Geräuschvoll meldete sich Rußlands Präsident Boris Jelzin zu Wochenbeginn vom Krankenbett. In einer schriftlichen Note schlug er dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko vor, die Integration der Nachbarländer in diesem Jahr nun endgültig voranzutreiben. Jelzin erwägt ein Referendum, in dem beide Länder über die wirtschaftliche und politische Vereinigung entscheiden sollen.

Darüber hinaus konkretisierte der russische Präsident seine Vorstellungen. Bis Ende 1997 sollen beide Staaten die Grundlage eines einheitlichen Rechtssystems geschaffen und die Steuergesetzgebung angeglichen haben.

Anvisiert wird ein einheitliches Währungssystem und ein Haushalt. Überdies legte der Präsident nahe, die offenen Fragen im Energiesektor einer Lösung näherzubringen. Die Integration der beiden GUS-Staaten steht seit langem auf der Moskauer Tagesordnung. Im April letzten Jahres unterzeichneten Moskau und Minsk eine Art Grundlagenvertrag. Allerdings haperte es dann mit der Ausführung, da der Kreml kein übermäßiges Interesse hegte, sich den wirtschaftlich bankrotten Bruder und politisch fragwürdigen Pantokrator Lukaschenko ans Bein zu binden.

Die Aktion hatte damals propagandistischen Charakter. Präsidentenwahlen standen vor der Tür, und Jelzin wollte jene Wähler gewinnen, die dem Untergang der UdSSR nachtrauerten.

Mit dem neuerlichen Vorstoß signalisiert der seit über sechs Monaten abwesende Präsident zunächst, daß es ihn noch gibt und daß er in der Lage ist, maßgebliche Schritte zu initiieren. Doch das Timing spricht für sich. Gerade sucht das Parlament nach Möglichkeiten, den kranken Präsidenten vom Thron zu stoßen. Außenpolitisch droht die Nato, gegen den ausdrücklichen Wunsch der Russen ihren Einflußbereich nach Osten auszudehnen.

Die Wiedereingemeindung des westlichen Nachbarn wäre somit ein deutliches Zeichen, die Nato- Osterweiterung nicht folgenlos hinzunehmen. Jelzins stellvertretender Stabsschef Sergej Schachrai kommentierte, eine wirkliche Wiedervereinigung sei die effektivste Antwort auf die Erweiterung der Nato. Diese Haltung scheint im Kreml zunehmend Anhänger zu finden.

In den letzten Tagen äußerte sich auch der bisher eher zurückhaltende Außenminister Jewgenij Primakow in harschem Ton. Er drohte Estland mit wirtschaftlichen Sanktionen und lehnte es ab, den Grenzvertrag mit dem baltischen Nachbarn zu unterzeichnen. Desgleichen scheint auf seine Initiative zurückzugehen, daß das Start-II-Abkommen nicht ratifiziert werden soll und die Vernichtung der SS-18-Raketen vorübergehend eingestellt wird.

Jelzins Initiative beinhaltet indes noch ein ganz anderes Ziel. Seit letztem Jahr sind beide Länder eine Zollunion eingegangen. Weißrußland ist seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen und hat die Mängel im Zollsystem nicht beseitigt. Alkohol- und Automobilimporte via Weißrußland umgehen den russischen Zoll, klagt Moskau. Umgerechnet mehrere Milliarden Mark verlor der russische Fiskus dadurch.

Die präsidiale Note liest sich denn auch stellenweise nicht wie eine Liebeserklärung zweier Brudervölker, sondern wie eine ultimative Aufforderung, seinen Pflichten nachzukommen, wenn Lukaschenko denn tatsächlich an einer Rückkehr ins russische Imperium gelegen ist. Desgleichen wird er aufgefordert, die Privatisierung voranzutreiben. Für den Altkommunisten eine unverdauliche Kröte. Die Integration wäre für Moskau mit außerordentlichen Kosten verbunden. Ob Rußland es sich noch einmal erlaubt, sein Imperium auf militärischen Sockeln statt auf ökonomischen zu errichten, bleibt abzuwarten. Das letzte Imperium ist daran zerbrochen...