Die Rückkehr der Telephoten

Das Bildtelefon ist auch im Zeitalter der Telekom kein Massenartikel geworden. Dabei war es bereits vor 60 Jahren technisch voll entwickelt. Die Nazis wollten Modernität beweisen. Ein vergessenes Kapitel der Technikgeschichte  ■ Von Bernd Flessner

Für Jules Verne stand bereits 1895 fest, daß das rein akustische Telefonieren nur die halbe Erfindung war. Erst die Übertragung des entsprechenden Bildes machte das Telefon komplett. In seinem Roman „Die Propellerinsel“ kreuzt eine gigantische künstliche Insel aus Stahl und Aluminium wie ein überdimensionales Traumschiff auf den sieben Weltmeeren und bietet seinen Passagieren, allesamt Milliardäre, ein bequemes Luxusleben. Zu den technischen Einrichtungen der Propellerinsel gehören auch sogenannte „telephotische Apparate“, heute würde man sie Bildtelefone nennen. Von Jules Verne werden sie als Selbstverständlichkeit eines zukünftigen Alltags beschrieben.

Vernes „telephotische Apparate“ waren keine bloßen Phantasieprodukte. Bereits 1843 hatte der Schotte Alexander Bain ein Verfahren zur elektromechanischen, zeilenweisen Abtastung von Bildern entwickelt. Und seit daraufhin einige Physiker in Europa und den USA damit begannen, Apparate zur Fernübertragung fotografischer Bilder zu entwerfen, galt eine elektrische Bildübertragung, zumindest in Fachkreisen, als möglich. Diese Bemühungen hatten 1884 schließlich Erfolg. Am 6. Januar meldete Paul Nipkow (1860 bis 1940) sein „Elektrisches Teleskop“ in Berlin zum Patent an. Mit Hilfe einer rotierenden Lochscheibe konnten Bilder in Punkte und Zeilen zerlegt, elektrisch übertragen und an anderer Stelle wieder zusammengesetzt werden. 13 Jahre später stellte der spätere Physik-Nobelpreisträger Ferdinand Braun (1850 bis 1918) seine Kathodenstrahlröhre vor. Die grundlegenden Erfindungen der Fernsehtechnik waren also noch vor der Jahrhundertwende gemacht. Und da es den Rundfunk noch nicht gab, der als Vorbild für ein öffentliches Fernsehen hätte dienen können, strebte die neue Technik zunächst nur die Vervollkommnung des akustischen Telefonierens an.

Auch der 1925/26 von Fritz Lang mit ungeheurem Aufwand inszenierte Science-fiction-Film „Metropolis“ präsentierte das Bildtelefon als Technik der Zukunft. Ein öffentliches Fernsehsystem, etwa zur Zerstreuung der unterdrückten Arbeiter, hatte Lang indes für seine gigantische Zukunftsmetropole nicht vor(her)gesehen.

1929: Die erste „Gegensehanlage“

Die Bildtelefone von Verne und Lang blieben nur kurze Zeit Zukunftsvisionen: Schon drei Jahre nach der Premiere von „Metropolis“ wurde das erste funktionsfähige Bildtelefon der Welt einer staunenden Öffentlichkeit vorgestellt. Neben den ersten Fernsehgeräten war nämlich die von Gustav Krawinkel entwickelte Fernsehsprechzelle, auch „Gegensehanlage“ genannt, die Sensation der 6. Großen Deutschen Funkausstellung im August 1929 in Berlin. Die Anlage arbeitete mit einer Nipkowscheibe und einem dreißigzeiligen Bild. Zwar betrug die Übertragungsstrecke der Bildsignale nur wenige Meter, doch vermittelte das Bildtelefon den Besuchern die Gewißheit, daß nun das Ende des bekannten Telefonierens gekommen sei. Auch die Reichspost setzte auf Krawinkels Erfindung und bezog sie in ihre Planungen mit ein.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 wurde die Entwicklung der Fernseh- und Bildtelefontechnik fortgesetzt. Der Auftrag lautete, sämtliche zivilen wie militärischen Anwendungen der Fernsehtechnik zu ermitteln und zu erproben. Hitler und Propagandaminister Joseph Goebbels wollten alle denkbaren Möglichkeiten ausschöpfen. Vor allem ein Bildtelefonnetz sollte schon bald im Deutschen Reich aufgebaut werden. Stolz verkündeten daraufhin die großen deutschen Tageszeitungen: „Das Fernseh-Telephon kommt.“

Nach ersten erfolgreichen Versuchen im Jahr 1934, zwischen Berlin und München eine Bildtelefonverbindung herzustellen, entschied sich die Reichspost bei der Übertragung der Ton- und Bildsignale für eine völlig neue Technik. Das geplante Bildtelefonnetz sollte nicht auf dem herkömmlichen Leitungsnetz basieren, sondern auf einem modernen Koaxialkabel, bestehend aus Mittelader und Abschirmung. Mit diesem Kabel, das erstmals 1935 als „Fernkabel 501“ auf der Strecke Berlin–Leipzig verlegt wurde, konnten mehrere Telefon- und Bildtelefongespräche sowie Fernsehprogramme gleichzeitig übertragen werden. Die ersten öffentlichen Bildtelefonzellen wurden an der Ecke Hardenberg-/Kantstraße in Berlin und am Augustenplatz in Leipzig installiert, so daß am 1. März 1936 die erste öffentliche Bildtelefonverbindung der Welt in Betrieb genommen werden konnte. Die Sensation war perfekt. Denn seit gut einem Jahr verfügte Hitler bereits über das erste, täglich ausgestrahlte Fernsehprogramm.

Geschickt nutzten die Nationalsozialisten beide Erfindungen, um der Welt zu demonstrieren, wie modern und technisch überlegen das Großdeutsche Reich war. So wurden die Olympischen Spiele 1936 live im Fernsehen übertragen, während Reporter erste Ergebnisse und Bilder per Bildtelefon durchgeben konnten. Schnell ließ Goebbels noch die Propagandakurzfilme „Das Auge der Welt“ und „Wer fuhr IIA2992?“ drehen. Sie nutzten das allgemeine Interesse und zeigten ein modernes, aufgeschlossenes Deutschland, in dem Bildtelefonieren eine Selbstverständlichkeit ist. Wer diese Filme sah, war davon überzeugt, einen Blick in die Zukunft werfen zu können. In eine schöne, neue Zukunft, in der sich viele Probleme mit Hilfe einer modernen Kommunikationstechnik lösen lassen. Insbesondere das Bildtelefon wurde als Vorbote dieser Zukunft verstanden. Rassenhaß und Unterdrückung kamen in diesen Filmen nicht vor und schienen der gezeigten Modernität fremd zu sein. So waren die Besucher aus aller Welt begeistert und ließen sich blenden.

Nicht wenige nutzten ihren Aufenthalt in Berlin während der Olympischen Spiele, um diese Zukunft auszuprobieren. Für ein Dreiminutengespräch mit der sogenannten „Weitverkehrs-Fernsehsprechverbindung“ waren 3 Reichsmark zuzüglich 50 Pfennig „Herbeirufgebühr“ zu entrichten. Ein Bildtelefongespräch kostete somit genau doppelt soviel wie ein normales Ferngespräch. Jedes Gespräch mußte natürlich rechtzeitig vorangemeldet werden, damit die Post den gewünschten Gesprächspartner ermitteln und zur vereinbarten Zeit zu der jeweiligen Bildtelefonzelle bestellen konnte.

In den Bildtelefonzellen warteten gemütliche Sessel auf die neugierigen Postkunden. Hatte es sich auch der gewünschte Teilnehmer am anderen Ende gemütlich gemacht, wurde die Verbindung geschaltet. Als Aufnahmegerät dienten eine im Vakuum rotierende Nipkowscheibe sowie zwei Photozellen; zur Bildwiedergabe wurde, im Gegensatz zur ersten Anlage von 1929, eine Braunsche Röhre benutzt. Das Bild war aus 180 Zeilen aufgebaut.

Da die Reichspost mit den ersten Resultaten zufrieden war, wurde die Verkabelung zügig fortgesetzt. Als nächste Stadt erhielt Nürnberg 1937 den Anschluß an das neue Netz. Die entsprechende Bildtelefonzelle wurde in der Schalterhalle des Postamtes am Bahnhof aufgestellt. Ab dem 13. Juli 1938 konnte man dann auch vom Telegrafenamt am Münchner Hauptbahnhof Bildtelefongespräche führen. Vor Kriegsbeginn wurden noch Koaxialkabel, sogar für ein 441-Zeilen-Bild, nach Hamburg, Frankfurt a.M., Köln, Hannover und Wien verlegt. Die Bildtelefonzellen wurden in diesen Städten jedoch nicht mehr in Betrieb genommen. Ein weiterer Ausbau des Bildtelefonnetzes wurde durch den Krieg verhindert. Das Dritte Reich zeigte sein wahres Gesicht.

Zurück ins Reich der Visionen

Die Forschungsanstalt der Deutschen Reichspost erhielt den Auftrag, sich nun vorrangig auf eine militärische Verwendbarkeit der Fernseh- und Bildtelefontechnik zu konzentrieren. So wurden unter anderem Starts der V2-Rakete, der sogenannten Wunderwaffe, von Peenemünde nach Berlin via Fernsehen übertragen oder der ferngelenkte Marschflugkörper „Henschel HS293D“ entwickelt, dessen Flug vom Monitor aus kontrolliert werden konnte. Entscheidende militärische Bedeutung hat die Fernsehtechnik allerdings nie erlangt.

Das zivile und öffentliche Bildschirmtelefon, der Vorbote einer fortgeschrittenen technischen Zukunft, kehrte indes zurück ins Reich der Visionen. Es wurde wieder zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Science-fiction.

Zu einem großen Erfolg ist das Bildtelefonieren für die Reichspost ohnehin nicht geworden. Letztendlich waren die Gesprächskosten wohl doch zu hoch und die Herbeirufprozedur zu umständlich. So haben etwa in Nürnberg gerade einmal zehn Teilnehmer pro Monat die Anlage genutzt. Bemängelt wurde außerdem, daß der Hörer beim Telefonieren das Gesicht verdeckte. Daraufhin ersetzte man im Laufe des Jahres 1938 die Telefonhörer durch moderne Freisprechanlagen. Die Bildqualität hingegen empfanden die Teilnehmer als sehr gut. Doch auch das konnte das Bildtelefon nicht retten. Zu sehr war es noch Teil der Zukunft und fand keinen festen Platz in der Gegenwart. Während der seit dem 22. März 1935 bestehende Fernsehbetrieb aufrechterhalten wurde, legte die Post die Bildtelefonzellen Anfang 1940 still.

Doch was geschah mit dem Bildtelefonnetz nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus? Der Nürnberger Telegrapheninspektor Alfred Benker erinnert sich: „Es wurde nach Kriegsende Meter für Meter wieder ausgegraben. Die Verstärkerstationen haben die Alliierten bis auf die letzte Schraube abgebaut. Alles wurde in Kisten gepackt und weggeschafft.“

Am 12. Juli 1950 wurde mit einem Sender des NWDR in Hamburg das erste Fernsehbild nach dem Krieg ausgestrahlt. Die Anlage war aus den Überresten der technischen Einrichtungen des 1943 zerstörten Berliner Fernsehsenders zusammengebaut worden. Das Bildtelefonnetz wurde hingegen nicht wieder restauriert und geriet in Vergessenheit.

Als die British Telecommunication Research Ltd. auf der Londoner Funkausstellung 1952 ihr Bildschirmtelefon der Öffentlichkeit präsentierte, galt es als die erste Anlage dieser Art auf der Welt. Gustav Krawinkels Fernsehtelefon aus dem Jahr 1929 und das im Entstehen begriffene Bildtelefonnetz der 30er Jahre in Deutschland waren nur noch wenigen Experten bekannt. Nur sie wußten von der Vergangenheit der Zukunft des Bildtelefonierens.

Unser Autor Bernd Flessner ist Mitglied im Netzwerk Zukunft e.V. und Dozent an der Universität Erlangen-Nürnberg. 1996 erschien „Die Welt im Bild. Wirklichkeit im Zeitalter der Virtualität“ im Rombach-Verlag, Freiburg