„Man weiß nie, was auf der anderen Seite ist“

■ Menschen, die sich in Computernetzen begegnen, sind Menschen aus Fleisch und Blut mit menschlichen Gefühlen. Nur vergessen sie das manchmal: Ein Gespräch mit Merel Mirage

taz: Ihr „Poem Navigator“ entschlüsselt ein chinesisches Gedicht online auf einer Website. Die Installation „Verschlüsselte Gefühle“ dagegen ist ein Kunstwerk über das Internet außerhalb des Internets. Warum?

Merel Mirage: Anfangs dachte ich darüber nach, aus meiner persönlichen Erfahrung eine Installation im Internet zu machen. Ich hatte das Gefühl, aus einer Geschichte im virtuellen Raum auch eine Geschichte für den virtuellen Raum machen zu müssen. Aber es läuft soviel Mist im Internet, so viele Leute sagen irgend etwas, daß ich mich dagegen entschied. Millionen Menschen werfen sich ins Internet, ohne dabei zu realisieren, daß sie menschliche Wesen sind. Ich glaube, dieser Kampf des Menschen in der virtuellen Realität des Internets wird im kommenden Jahrhundert immer wichtiger werden. Man weiß nie, was auf der anderen Seite ist, alles existiert nur im Kopf. Man bekommt zwar Informationen von Personen, erfährt ihren Namen, liest ihre Wörter, aber man weiß nicht, was davon wahr ist oder nicht. Doch noch sind die Menschen aus Fleisch und Blut und haben Gefühle. Wie sie damit in einem virtuellen System umgehen können: Das ist es, worauf meine Arbeit hinausläuft. Das ist das wichtigste Thema des Internets.

In Ihrer Offline-Installation verliebt sich eine Person in eine andere, beide kennen sich nicht. Geschieht so etwas tatsächlich auch online?

Menschen sind im Internet Tag und Nacht miteinander verbunden. Es ist wie im normalen Leben, man begegnet Menschen, die man mag, und solchen, die unsympathisch sind. Aber was macht man mit all diesen Gefühlen in einer virtuellen Welt? Wenn man mehr und mehr mit einer bestimmten Person in Kontakt gerät, bleibt es nur eine virtuelle Bekanntschaft. Man findet dann heraus, daß das eine ganz andere Welt ist, mit völlig anderen Parametern, um sich selbst zu definieren. Darin kann man verlorengehen. Man hat nur noch seine eigenen Gefühle und ist eingeschlossen, wie dieser Schmetterling in meiner Arbeit, der plötzlich auftaucht und durch die Bildschirmscheibe versucht auszubrechen. Aber das kann er nicht, weil er in dem virtuellen Raum geboren wurde und darin lebt.

Wann entsteht denn der Wunsch, diese virtuelle Person Wirklichkeit werden zu lassen, sie zu treffen?

Es ist ein langer Weg, bis man realisiert, daß das mehr ist als ein bloßer geschäftlicher Internet- Talk. Man lernt jemanden kennen und weiß am Anfang noch nicht, daß es diejenige Person ist, in die man sich einmal verlieben wird. Das kann jedem zu jeder Zeit und überall passieren, und tatsächlich passiert es sehr oft im Internet. Man kann es gar nicht wirklich ,sich verlieben‘ nennen, vielleicht eher den Wunsch, jemanden zu treffen. Es ist einfach eine große Illusion. Aber auch nicht nur Illusion, denn es ist ja auch was Wahres dran, weil eine Person dir zurückschreibt. Man steckt in dieser Art von Freundschaft und Flirten, und es geht weiter und weiter. Und es ist so einfach, E-Mails zu schreiben. Man schickt sie weg und bekommt sofort eine Antwort. Es ist ein sehr spontaner Weg, Leute anzusprechen. Aber man muß mit der virtuellen Realität umgehen können. Das heißt, da ist dein Körper, der immer noch aus Fleisch und Blut ist, und da sind deine Gefühle, mit denen du im virtuellen Raum agierst. Nicht die Gefühle sind dabei virtuell, aber die Erwartungen. Es entsteht eine Lücke zwischen dem virtuellen und dem realen Leben. Die Gedanken gehen sehr weit weg, während der Körper hierbleibt. Und ich glaube, mit dieser Trennung wird die Menschheit im nächsten Jahrhundert zu kämpfen haben.

Werden sich dadurch die menschlichen Beziehungen, die Gesellschaften entscheidend verändern?

Ich bin skeptisch. Jedes Medium hat seine Tücken und Fallen, die muß man erkennen können. Es ist zum Beispiel viel einfacher, seine Gefühle niederzuschreiben als sie auszusprechen, und so kann es passieren, daß man sein virtuelles Leben wunderbar regelt, aber sein soziales, reales Leben, den Umgang mit Menschen überhaupt nicht in den Griff bekommt. An der Universität in Holland, an der ich studiert habe, gab es eine Menge junge Männer, die in verschiedenen Muds und Chats, virtuellen Gemeinschaften waren. Im Internet konnten die alles, sich Personen nähern, sie verletzen, alles mögliche mit ihnen anstellen, aber in Wirklichkeit waren sie alle extrem schüchtern. Die Gefahr besteht also darin, daß man eine klaffende Lücke zwischen seiner Phantasie und der Realität entwickelt.

Und wenn Sie mich fragen, ob das Internet global viel verändern wird: Wie das Telefon wird auch das Internet viele Dinge ändern, aber am Ende wird es nur eine andere Form menschlicher Kommunikation sein.

Interview: Petra Welzel