Drei Prätendenten und fünf Bypässe

Boris Jelzins mysteriöse Krankheiten verleiten in Rußland zur Vervielfältigung der medizinischen und politischen Spekulationen. Die möglichen Nachfolger stehen schon Schlange  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Die Spanne, während derer Boris Nikolajewitsch Jelzin nach seiner Wiederauferstehung vor den Augen der Erdenmenschen wandeln durfte, war kürzer bemessen als bei Jesus Christus. Am 8. Januar – einen Tag, nachdem das orthodoxe Rußland sein Weihnachtsfest beging – wurde der Präsident wieder hospitalisiert, diesmal mit einer doppelseitigen Lungenentzündung. Insgesamt sechs Monate vor und nach Jelzins Herzoperation hatte das Land in der Hoffnung geschwiegen, Boris Nikolajewitschs Gesundheit erweise sich als reparabel. Nun verschreiben die Ärzte dem Patienten erneut Ruhe – vorläufig bis Ende Januar.

Und plötzlich ist es aus mit der Geduld der Russen. Nicht einmal mehr die Vorstellung, einige der Jelzin im Herbst gelegten fünf Bypässe könnten klammheimlich versagt und ihm ein Lungenödem beschert haben, fesselt sie. Das populäre Fernseh-Wochenmagazin „Itogi“ der privaten Fernsehgesellschaft NTV, die Jelzin seit dem Präsidentschaftswahlkampf unverbrüchlich die Stange gehalten hat, eröffnete am Sonntag eine neue Diskussion. Thema: Ist es für den Präsidenten an der Zeit, zurückzutreten?

Am freudigsten bejahte dies der in Ungnade gefallene Ex-Sicherheitsrats-Sekretär Alexander Lebed. „Der Präsident ist schwer krank. Außerdem läßt seine völlig unangemessene Lebensführung in den letzten 40 Jahren keinerlei Hoffnung mehr zu“, begründete der General genüßlich seine Forderung nach Neuwahlen schon vor dem Ende von Jelzins Amtsperiode im Jahre 2000. Lebed erblickt für sein Volk einen „Leitstern“ am Ende des Tunnels, und zwar sich selbst: „Ich will und werde Präsident sein.“

Der General hat Grund, sich zu beeilen. Obwohl er noch immer der populärste Politiker in Rußland ist, zeigen die letzten Meinungsumfragen, daß seine Anhängerschaft abnimmt. „Von allen Politikern hat wohl Tschernomyrdin die Zeit der Abwesenheit des Präsidenten für sich am besten genutzt“, meinte ein Analytiker- Team anhand von Umfragen am letzten Montag in der Wochenzeitschrift Nowoje Wremja: „Er arbeitet die Kompromisse mit der Duma und dem Föderationsrat aus, zu ihm kommen die Regionen mit ihren Problemen.“ Die Autoren weisen auf den großen Vorteil des Ministerpräsidenten hin, sich nicht als Präsidentschaftsprätendenten bezeichnen zu müssen. Indem er die Funktionen des kranken Präsidenten wahrnimmt, bietet Tschernomyrdin sich automatisch als Nachfolger an.

Der Ministerpräsident, der seinen Urlaub vorerst nicht unterbrach, scheint seine Beliebtheit allerdings eher seinem Amt als bestimmten persönlichen Qualitäten zu verdanken. Ein Amt – ob nun in den zentralen oder in den lokalen Machtapparaten – ist heutzutage in Rußland eine fast unumgängliche Voraussetzung für den Sprung auf den Präsidentensessel. Dem von Jelzin enttäuschten Volk fehlt es am nötigen Schwung, um sich noch einmal unter allen möglichen Entbehrungen einen originellen Querkopf auf die Schultern zu heben. Zur Freude gereicht dies Moskaus Oberbürgermeister Juri Luschkow, der nach Lebed und Tschernomyrdin das Kleeblatt der drei aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten vervollständigt.

Da Luschkow die russische Hauptstadt in den Augen der Provinzler zum wahren Schaukästchen herausgeputzt hat, wird er den Amtskollegen im weiten Land als Vorbild unter die Nase gehalten. Kaum jemand findet sein für einen exsowjetischen Würdenträger noch immer ungewöhnliches Erscheinungsbild in Hemdsärmeln und Schiebermütze nicht sympathisch. Vorläufig gibt sich der Moskauer Oberbürgermeister seinem Präsidenten gegenüber noch loyal; ganz nebenbei leistet er sich einen kleinen Flirt mit Alexander Lebed. Insider meinen, er habe nichts dagegen, auf dessen Präsidentschaftsticket ein Stück weit mitzufahren – zum Beispiel als möglicher Premier.

Wer sich heute in Rußland politisch profilieren will, wagt auf Großmachtphraseologie nicht zu verzichten. Daß Jelzin einen Brief an Belorußlands Präsidenten Alexander Lukaschenko geschickt habe, in dem er eine politische und ökonomische Union zwischen den beiden Staaten „in der einen oder anderen Form“ vorschlage – diese Nachricht fegte fürs erste die Spekulationen über Jelzins Krankheit von den Titelseiten. Die Ideenwelt der KPdSU-Bürokraten ist schon lange in den Mund des Präsidenten zurückgekehrt. Als typischer Nomenklaturaboß ist nämlich auch Jelzin dem grob materialistischen Irrtum aufgesessen, mit der Einführung einer Marktwirtschaft werde sich Demokratie schon von allein herstellen. Mit Zynismus nahmen die RussInnen zur Kenntnis, daß Jelzin in den letzten Jahren nicht einmal mehr davon redete, die Privilegien der Politiker und ihrer Protegés zu reduzieren. Begriffe wie „Demokratie“ und „Rechtsstaatlichkeit“, mit denen Jelzin antrat, sind für viele heute diskreditiert.

Die wenigen Politiker in Rußland, die keine imperialistischen Illusionen schüren, halten sich zur Zeit bedeckt. Zum Beispiel Boris Nemzow (37), ökonomisch experimentierfreudiger Gouverneur von Nischni Nowgorod und Halbjude. Das Mitglied der Fraktion „Jabloko“ wurde bei den Präsidentschaftswahlen von einer Koalition demokratischer Parteien gebeten, für sie zu kandidieren. Auch Boris Jelzin selbst hat ihm einmal nach einem Tennis-Match vorgeschlagen, sein Nachfolger zu werden. Nemzow tat dies alles bisher als „Clownereien“ ab. Über Jelzin sagt er: „Ich bin vor ihm nie zu Kreuze gekrochen, aber für mich bleibt er immer noch der Zar.“

Nemzow ist jung genug, um auch noch übermorgen als Präsidentschaftskandidat zu taugen. Sein Parteifreund Grigori Jawlinski, einst Jelzins Gegenkandidat, antwortet auf die Frage, was er von vorgezogenen Wahlen halte: „Unser Präsident Boris Nikolajewitsch Jelzin kann die Probleme des Landes nicht lösen – aber nicht etwa deshalb, weil er krank ist. Seine Zeit ist vorbei, ob er sich nun im Kreml befindet oder im Krankenhaus.“ Jawlinski scheint dennoch eine Regentschaft der Berater im Schatten Jelzins für das kleinere Übel zu halten. „Gegenwärtig bedeutete eine Wahl in Rußland die Kandidatur von Räubern, Halbfaschisten und Kommunisten. Ich meine, daß Wahlen vor Ablauf dieser vier Jahre eher schaden könnten. Aber für Rußland werden dies vier verlorene Jahre sein.“