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Im Ringkampf mit der Nostalgie

■ Ein Bildband über das historische Hamburg zeigt versteckte Alternativen zur gegenwärtigen Stadt Von Till Briegleb

Eigentlich ist Nostalgie eine verdammenswerte Empfindung, fast immer ideologisch besetzt und voller idealisierender Denkfehler. Wo sie auftaucht ist stets Vorsicht geboten, denn ihre verklärende Grundsubstanz führt zu falschen Wahrnehmungen der Gegenwart und wirkt geradezu als Anti-Körper für die analysierende Betrachtung aktueller Probleme. Rock'n'Roll-Nostalgie wie Beziehungsnostalgie, emphatische Betrachtung vergangener Kulturen oder Träumereien über nur bruchstückhaft überlieferte Personen und Gesellschaften – so sinnlich einem derartige Gefühle ankommen mögen, ihr Kunstgriff ist doch immer derselbe: Sie funktionieren nur aufgrund radikaler Amputationen an einem auch nur einigermaßen vollständigen Gesamtbild.

Doch diese Gefühle sind uns so viel wert, daß auch nur die vorsichtige Erweiterung unseres Begriffshorizontes zu teilweise brutalen Gegenreaktionen führen kann. Ob es, um bei jüngeren Beispielen zu bleiben, um die Verbrechen der Wehrmacht im 2. Weltkrieg oder die möglicherweise päderastischen Gelüste eines Michael Jackson geht – die rückwärtige geistige Schluckbewegung, mit der der Nostalgiker schon die Suche nach Wahrheit mit unverdauter Übelkeit übergießt, ist bei einem ehemaligen Bundeskanzler wie Helmut Schmidt nicht viel anders als bei einem Teenie aus Steilshoop.

Dennoch, und damit sind wir beim eigentlichen Thema, gibt es immer wieder Bereiche, in denen sich alle Bewußtheit nicht dagegen wehren kann, daß man von nostalgischen Gefühlen angekrochen wird und einen die Wehmut bei der Gurgel packt. So hinterläßt die Betrachtung historischer Fotos von Hamburg, wie sie der von Hans Meyer-Veden herausgegebene Band Hamburg – Historische Photographien von 1842-1914 versammelt, ein nur schwer vermeidbares Heulen über die verlorene Urbanität der Hansestadt. Der Rhythmus von enormer Dichte und weltstädtischer Offenheit, die Kadenz des Fassadenspiels über dem Thema der Gründerzeit beziehungsweise des Fachwerkbaus, sowie die organische Beziehung zwischen Hafen und Kernstadt ergaben eine Sinfonie, die sich über die 70 Jahre seit dem Hamburger Brand zu einem unvergleichlichen Meisterwerk entfalten konnte.

Das abrupte Ende durch die von deutschen Kriegstreibern provozierten Bomben und die Fortführung der Zerstörung durch die Nachkriegs-Stadtplaner und -Architekten sind nun nachhaltig dafür verantwortlich, daß das Bild der Stadt der Pfeffersäcke uns heute wie die verwunschene Idylle einer intakten Metropole anmutet. Schnell wird dabei vergessen, daß etwa die katastrophalen hygienischen, sanitären und städtebaulichen Voraussetzungen im Gängeviertel regelmäßig zu grassierenden Krankheiten führten, von denen die Cholera-Epidemie von 1892 traurige Berühmtheit erlangte. Aber auch in anderen Stadtteilen – insbesondere in den Arbeitervierteln – herrschten oft so licht- und luftabholde bauliche Konstellationen, daß Hamburgs erster Oberbaudirektor Fritz Schumacher ab 1909 die Beseitigung dieser Zustände zu einem seiner vordringlichsten Ziele erklärte.

Dennoch können diese Zustandsbeschreibungen nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine sich organisch entwickelnde Stadt mit derartigen Problemen umgehen kann, ohne ihre Grundstimmung zu verlieren. Was der hier vorliegende Bildband in diesem Zusammenhang sehr eindrucksvoll darstellt ist, daß die „Chance“, die der große Brand von Hamburg von 1842 der Stadtentwicklung bot, zu einer weit städtischeren und „persönlicheren“ Lösung geführt hat, als die Tabula rasa nach 1945. Die kontextlose oder den Kontext ignorierende Umsetzung von Stadtplanungsideen der Klassischen Moderne verursacht noch heute in weiten Bereichen Hamburgs jenes Gefühl der Unwirtlichkeit und der verlorenen „Heimat“, dessen Ursache erst jetzt ganz langsam und versuchsweise zurückgeflickt wird.

Insbesondere all jene, welche die Hamburger Innenstadt inzwischen meiden, weil die Neubauten der letzten zehn Jahre sie zu einer abweisenden Bürostadt mit Wohnenklaven hat werden lassen, werden bei der Durchsicht der Abbildungen belebte öffentliche Räume und kompakte, urbane Quartiere dort entdecken, wo heute nach 18 Uhr kein Pups mehr verfliegt. An der Kehrwiederspitze oder beim Graskeller, zu den innerstädtischen Fleeten oder zur Elbseite hin florierte ein Leben, das sich aus der unmittelbaren Nachbarschaft von Wohnquartieren für das „normale Volk“ (und nicht nur für den bequemen American-Express-Adel in Doorman-Festungen, siehe links) und Gewerbe ergab.

Auch wenn Mischnutzung damals mehr eine notwendige Verquickung der Lebensbereiche aus fehlender Mobilität war, so ergab das Resultat doch eine Stadt, die diese Bezeichnung auch verdiente. Selbst wenn die Blicke auf das Hamburg des 19. Jahrhunderts viel Dörfliches und Kleinstädtisches finden werden, so setzt sich das Mosaik aus den einzelnen Fragmenten doch schnell zu einem Lebensort zusammen, der anschaulich macht, warum Hamburg den Ruf besaß, die „amerikanischste“ der deutschen Städte zu sein. Hektik und Vitalität bei Handel, Geschäften, Kommunikation und Konsum galten damals zwar als durchaus negative Eigenschaften, entdecken sich aber heute als fehlendes Elixier eines großen Stadt-Fladens, der über die bauliche Distanz die menschliche verursacht hat.

Hans Meyer-Veden, der ja bereits in den bisherigen Veröffentlichungen seiner Hamburg-Foto-Reihe seine Vorliebe für stille Ästhetik bewiesen hat, wählt auch bei fremden Fotos lieber die gelungene Komposition als den sozialen Blick. Er stellt bei seiner Auswahl die bedeutendsten Hamburger Fotografen mit ihren „besten“ Arbeiten vor.

Das führt dann natürlich auch dazu, daß etwa dokumentarische Bilder der Sanierung des Gängeviertels, wo abgerissene Menschen zwischen Schutthalden und Restbauten arbeiteten und lebten, in diesem Band nicht vorkommen. Auch achtet der Autor bei den Texten mehr auf die Beschreibungen des Wandels des fotografischen Handwerks als des Wandels der Stadt.

Etwas mehr historisches Material sowie Karten, die das Dargestellte in einen städtischen Zusammenhang rücken könnten, hätten den spannenden Bildband zudem zu einer nützlichen bebilderten Hamburg-Geschichte werden lassen können. So bleibt dem Betrachter dann eben doch oft nur der Grufthauch der Nostalgie.

Hamburg – Historische Photographien von 1842-1914, herausgegeben von Hans Meyer-Veden, mit einem Essay von Hermann Hipp, Verlag Ernst & Sohn, Berlin 165 S., 80 Abb., 128 Mark

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