Sadistische Opportunisten

■ Malersaal: Karin Baier inszeniert Werner Schwabs „Eskalation ordinär“ genau und textbezogen

Hätte sich Werner Schwab die Gelegenheit gegeben, noch einige Jahre länger Theaterstücke zu schreiben, so hätten diese mit großer Wahrscheinlichkeit einen zunehmend moralischen Charakter bekommen. Denn im Gegensatz zu seinen ersten Dramen – Die Präsidentinnen, Übergewicht: unwichtig: Unform oder Volksvernichtung –, die so unvermittelt den Nerv vieler Menschen getroffen hatten, gerade weil dort niemand im Besitz einer „Wahrheit“ oder einer helfenden gesellschaftlichen Konvention war, führte er in seine späteren Stücke erstmals Protagonisten ein, die eine „ernsthafte“ Anklage gegen gesellschaftliche Mißstände und menschliche Unterdrückungsmechanismen führten. Eine Sex-Darstellerin, die ein messianisches Gericht über die Pornografie eröffnet (in Pornogeografie), einen Vater, der die Schuld für sein Elend in der Politik sucht (Mariedl: Antiklima(x)) oder im vorliegenden Fall den Arbeitslosen Helmut Brennwert, der in Eskalation ordinär vor seiner Selbstverbrennung einen Abrechnungsmonolog mit der Gesellschaft hält, die ihm „eine mögliche Ähnlichkeit mit anderen Menschen“ versagt habe.

Das Auftragsstück des Deutschen Schauspielhauses, das am Freitag im Malersaal uraufgeführt wurde, belegt aber noch eine andere Tendenz in Schwabs „Spätwerk“: den Versuch, sein „Schwabisch“ zu literarisieren. Zwar schickt er die Sätze seiner fratzenhaften Wesen noch immer über Substantivhäufungen, grammatikalischen Wahnsinn und scheinbar fehlerhafte Begriffsverkoppelungen in die sprachliche Wüste ohne Wiederkehr, aber die Dialoge sind viel strenger formuliert als das brutal verstärkte Bauern- und Proleten-Österreichisch, das nach unzähligen Schwab-Aufführungen doch zu einer gewissen Müdigkeit geführt hat.

Die Regisseurin Karin Beier reagiert auf diesen Wandel klug, indem sie den Fehler so vieler Schwab-Inszenierungen vermeidet, die der opulenten Sprache mit opulenter Ausstattung begegnen, bis sich beides in der Wirkung aufgehoben hat. In einer Art bühnenweiten eisernen Jungfrau konzentriert sie sich ganz auf den szenischen Vorgang. Brennwert (Andreas Patton), der so gerne in einer Sparkasse arbeiten möchte, verliert erst seine Selbstachtung, dann seine Verlobte (Catrin Striebeck), schließlich seinen ganzen Lebenssinn an einen leitenden Sparkassenangestellten (Wolfgang Prengler), das öffentliche Auge (Wolf Aniol) und ein Rentnerehepaar (Günter und Dorothea Delarue). Diese sadistischen Opportunisten, von Beier als Villains und Honecker-Karikaturen dargestellt, treiben Brennwert erst in den Irrsinn, um dessen Ausgüsse dann zu Prophetie hochzujubeln, bis sie endlich das Interesse daran verlieren und den Verirrten endgültig aus der Gesellschaft ausstoßen.

Die Verschränkung von bösem Schwank und bitterem Ernst umzusetzen, die die Vorlage liefert, gelingt Beier durch eine Trennung: Indem sie mit Brennwert eine tatsächlich bemitleidenswerte Figur erschafft, kann sie beiden Anliegen in einer Szene gerecht werden. Durch ihre textbezogene und genaue Schauspieler-Arbeit ist ihr darüber hinaus eine der wenigen Schwab-Inszenierungen gelungen, die den Autor und nicht nur den Spektakelschreiber ernst nimmt.

Till Briegleb