Computerphantasie?

■ Die Deutsche Bahn AG sucht weiter fieberhaft nach dem Fehler im Altonaer Stellwerk Von Jürgen Oetting

Das Schicksal des Altonaer Bahnhofes lag gestern in niedersächsischen Händen. In der Braunschweiger Siemens-Testanlage simulierten Techniker die Abläufe im nagelneuen zentralen Stellwerkcomputer des Hamburger Kopfbahnhofes. Die Fachleute vermuteten, daß der Rechner bei seinen pausenlosen Sicherheitsüberprüfungen eine Unregelmäßigkeit entdeckt und den Bahnverkehr vorsichtshalber gestoppt hat. Und das nicht nur für ein paar Stunden. Auch gestern lag der Altonaer Bahnhof von allen Lokomotiven und Waggons verlassen da.

Auch gestern führte die Altonaer Panne wieder zu einer Renaissance des Pinneberger Bahnhofs, in dem an normalen Bahntagen nur noch ganz wenige Bummelzüge halten. Auch gestern endete jeder Nahverkehrszug aus dem Norden in dem kleinen Bahnhof, und jeder Fernzug hielt: „Reisende Richtung Altona, benutzen Sie bitte die S-Bahn nach Neugraben.“

Auch gestern hatten die BeamtInnen auf dem – sonst zu übermässig strapazierten – Fernbahnsteig im Dammtorbahnhof Pause. Aus Altona kam nichts, und nichts fuhr hin. Der Reiseverkehr in die Metropolen des Südens und Ostens begann erst wieder auf dem Hauptbahnhof. So waren die S-Bahnen voll von Genervten und Beladenen. Und fast schien es, als marschierten auf Reeperbahn und Holstenwall viel mehr rotköpfig kofferschleppende Menschen: auf dem Fußmarsch von Altona zum Hauptbahnhof? Dort wurden die Enttäuschten und Wutentbrannten dann überrascht: Keine Hektik! Auf dem Hauptbahnhof wurde der Zugverkehr eher resigniert als aufgeregt abgewickelt. Nur auf dem Fernbahnsteig und dem S-Bahnsteig waberte das Leben, die Bahnsteige dazwischen erinnerten mächtig an Altonaer Verhältnisse.

Wieder kam ein Großteil der 80 000 Pendler, die täglich aus Richtung Norden über Altona in Hamburg einfallen, zu spät zur Arbeit, denn wieder betrug die morgendliche Durchschnittsverspätung 30 Minuten.

Eigentlich sollte der Zugbetrieb – so hatten es Sprecher der Deutschen Bahn AG vorsichtig vermutet – gestern mittag wieder rollen. War wohl nichts. Gestern gegen 16 Uhr konnte ein ratloser Bahnsprecher nur mitteilen, man habe den Fehler im System noch nicht gefunden, es sei nicht ausgeschlossen, daß die Ersatzlösungen (das sogenannte Pinneberg-Modell) auch während des heutigen Mittwochs zur Anwendung kämen. Offenbar ist es nicht möglich, die alten Stellwerke kurzfristig zu reaktivieren, um die Bahnkunden wenigstens nur mit den Standardverspätungen zu verärgern. Hat die Bahn AG die Dinger im ersten Computerwahn gesprengt?

Derweil suchen die Braunschweiger Experten nicht nur nach Fehlern, die von Altonaer Bahnbeamten ins hochsensible System gezaubert wurden. Die Störung im „Bedien- und Anzeigen-Rechner 16“, dem Kernstück des elektronischen Stellwerks, könnte auch „virtuell“ sein, hieß es. Sie könnte also der „Phantasie“ des Rechners entspringen. Damit würde er gut zur Deutschen Bahn AG passen, denn die läßt sich mit ihren Fahrplanangaben ja ständig Märchenhaftes einfallen.