Klangströme, fließt!

■ Musikhalle Sonntag: Werk von Wolfgang Rihm uraufgeführt

Bis vor kurzem gestaltete er musikalische „Energie-Partikel“, wie er sie selber nennt. Wolfgang Rihm arbeitete auf das „scharf isolierte und unverbundene musikalische Einzelereignis“ hin, zuletzt in der Oper Die Eroberung von Mexico, inszeniert vor drei Jahren in Hamburg.

Jetzt besinnt sich Rihm auf den Zusammenfluß der imaginierten Klangströme, auf Orchesterstücke, die in den nächsten Jahren zu einer fließenden Sinfonie führen sollen. Das gestern uraufgeführte Werk „Vers une symphonie fleuve“ ist ein erster Ansatz dazu. Die Klänge dieses Orchesterstückes fließen nicht an einem Strang. Die Themen entstehen eher in einzelnen Sumpflöchern neben dem Strom, kreiseln in Strudeln, ziehen sich zusammen und versickern oder brechen hervor, gehören plötzlich zum verbreiterten Fluß dazu. Besonders aufregend geraten die Zeitabschnitte, in denen unvermittelt Tonalität aufsteigt und über der Klangfläche evaporiert wie hauchdünner Nebel, der sich sofort verflüchtigt. Ansonsten entziehen sich die Klangteppiche der Tonalität, stoßen raffinierte Bläserfärbungen – vor allem durch die Baßklarinette – ins Geschehen, bis eine melodische Erinnerung hervorbricht.

Das Aufregendste aber an diesem neuen Werk ist Rihms Umgang mit Raum und Zeit. Immer wieder klingt die Musik, als würde sie rückwärts gespielt oder als rufe sie aus großer Entfernung (Ligetis Lieblingseffekt). Kurz vor Schluß erreicht dieses linear entwickelte Werk dann unvermittelt die Anfangstakte. Das hat nichts von einem einfachen „Wiederhole!“, sondern ist eine geschickte Irreführung des zeitlichen Empfindens. Doch auch räumlich bewegt sich die Musik im zweiten Satz nicht mehr horizontal – wie es ein Fluß vermuten läßt –, sondern plötzlich vertikal: Auf der Empore plazierte Schlagzeuger knallen feurig in das hyperbolisch ansteigende Geschehen, die Musik schießt nach oben wie ein ausbrechender Vulkan.

Wer Zeuge dieses zeitgenössischen Stückes war, der konnte dem anschließenden Klavierkonzert von Maurice Ravel nichts mehr abgewinnen, obwohl die energische Pianistin Cécile Ousset technisch brillierte und ohne Schmalz interpretierte. Die Neunte Symphonie von Antonín Dvorák löste zu Recht einen Sturm der Begeisterung aus, denn Gerd Albrecht hatte mit seinem Orchester hinreichend geprobt und dirigierte mit entsprechendem Einsatz. Was man über den Rihm nicht sagen kann: ärgerlich mal wieder, daß erst kurz vor der Uraufführung mit den Proben begonnen wurde. Albrecht wirkte oft sehr bemüht, die Einsätze erfolgten nicht immer exakt.

Aber nicht nur der Dirigent kann Gutes tun. Wer gerne Blumen schenkt, kann Wolfgang Rihm welche verehren. Der Komponist wird nämlich heute 43 Jahre alt. Glückwunsch! Gabriele Wittmann