: Nie mehr Schwarzfahren
■ Das Wochenend-Ticket schafft Identitätskrisen Von Marcus Reddemann
Belegte Sitzplätze, überfüllte Gepäckablagen, Menschentrauben, die in den Durchgängen stehen, Koffer und Rucksäcke, die den Weg zu Ausstieg und Klotür versperren. Reisende machen Bekanntschaft mit Ellenbogen, Kniescheiben und Kleinkindern fremder Leute: Auch am sechsten Wochenende seit Einführung des „Schönes-Wochenende-Tickets“ ist die Begeisterung ungebrochen. „Jetzt ist die Bahn endlich so billig, daß ich die Leute besuchen kann, die ich schon so lange nicht mehr gesehen habe“, jubelt eine notorische SchöWoTi-Benutzerin am Hauptbahnhof.
Die Erfolgsstatistik des sparsamen Fahrscheins, der noch bis Ende des Jahres für 15 Mark maximal fünf Personen von Samstag (0 Uhr) bis Sonntag (24 Uhr) in allen Nahverkehrszügen befördert, kann sich sehen lassen: 10.000 verkaufte Karten pro Wochenende in Hamburg und Schleswig-Holstein, meldet die DB-Pressestelle, unter den KäuferInnen rund 40 Prozent Neukunden. Doch soviel Licht wirft lange Schatten: „Unhaltbare Zustände“, wettern die Bahnbeamten. Egbert Meyer-Lovis, Bahn-Betriebsrat: „Wir fordern das Unternehmen auf, regelnd einzugreifen.“ Konkrete Forderungen hat die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED) noch nicht entwickelt. Dafür sei es noch zu früh.
Manfred Wächter von der DB-Pressestelle beschwichtigt: „Wir kennen das Problem, aber wir haben lieber wenige Einnahmen als gar keine.“ Es sei damit zu rechnen, daß das Ticket ab 1996 zu anderen Modalitäten angeboten wird – eine saftige Preiserhöhung scheint am wahrscheinlichsten. „Im Moment sind uns die Hände gebunden“, so Wächter. Zusätzliche Züge wird die Bahn AG jedenfalls nicht einsetzen. „Das wäre betriebswirtschaftlicher Blödsinn“, sagt der DB-Sprecher. Es sei nunmal das Risiko des einzelnen, im prallgefüllten Zug zu stecken und stehen zu müssen. „Was wollen Sie denn für drei Mark erwarten?“ fragt er rein rhetorisch. Es habe in den sechs Wochen nicht mehr Beschwerden gegeben als sonst.
Von preisbewußten Fahrgästen, das Zugbegleitpersonal ist weniger beglückt. „Da baut sich schon Frust auf“, beschreibt Meyer-Lovis die Befindlichkeit an der genervten Kontrolleursfront. „Einerseits sehen sie, daß man Ideen für das ,Unternehmen Zukunft' hat und Arbeitsplätze sichert, andererseits klagen sie über die teilweise chaotischen Verhältnisse in den Zügen und fragen sich, warum sie überhaupt noch kontrollieren sollen.“
Auf die Situation angesprochen, sagen die meisten Bahnbeamten am Hauptbahnhof und in Altona entweder gar nichts, schimpfen wie die Rohrspatzen oder flüchten sich in Zynismus: „Ich finde das echt toll, alles wunderbar und irre sozial“, gibt ein junger Beamter hämisch zu Protokoll. „Wenn ich in einer Vierersitzgruppe nur eines der Wochenendtickets sehe, brauch ich mir die anderen Fahrkarten doch gar nicht mehr anzuschauen.“ Schwarzfahren jedenfalls ist damit so gut wie unmöglich. „Einen finden die doch immer, der sie auf seinem Ticket mitnimmt“, sagt Meyer-Lovis.
Und noch eine Gruppe vermißt ihr ehemals schönes Wochenende: Viele Bahncard-BesitzerInnen sind sauer–nicht nur über die drangvolle Enge. „Mit ein- bis zweimal umsteigen lassen sich zumindest die Kurz- und Mittelstrecken problemlos und kostengünstiger bewältigen“, sagt eine Mittzwanzigerin erbost. „Meine Bahncard hätte ich mir auch schenken können.“
Die Tauglichkeit des Slogans gewitzter Fahrkartenverkäufer, mit dem Wochenendticket könne gar die Bayernmetropole angesteuert werden, ist von abenteuerlustigen Zeitgenossen übrigens schon getestet worden. Deren Erkenntnis angesichts diverser Abstimmungsprobleme der Bahn-Strategen mit den Anschlüssen im Nahverkehrssystem: „Was ist schon München bei Nacht gegen den Mond von Wanne-Eickel?“
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