Die Jacke

■ Fanny Müller:

Seit Monaten versucht meine 16jährige Nichte, mir meine Jeansjacke abzuschnacken und entwickelt dabei eine Power und Fantasie, die, für andere Zwecke eingesetzt, durchaus die dringend notwendigen revolutionären Umwälzungen in dieser Gesellschaft in Gang setzen könnten.

Angefangen hat sie mit: „Sag mal, Tantchen, diese olle Jeansjacke da, die trägst du doch in deinem Al..., die trägst du doch wohl nicht mehr...?“ Ich versicherte ihr, daß ich das sehr wohl noch täte, daß ich darüber hinaus die feste Absicht hätte, diese Jacke auch noch ins Seniorenheim mitzunehmen, in das sie mich später zweifelsohne stecken würden („Nie im Leben, Tantchen!“) und daß mein Taufname nicht „Tantchen“ sei, und wenn sie mich noch einmal so nennen würde, würde ich ihr die Jacke noch nicht mal testamentarisch vermachen, sondern nach Rußland schicken lassen oder wie die neusten Bundesländer dann auch immer heißen mögen. Zwei Wochen später versuchte sie es mit einer kleinen Erpressung: „Weiß Oma eigentlich, daß du schon wieder'n neuen Typen hast?“ „Nein. Sie weiß auch nicht, daß du dich neulich bei Karstadt in der Kosmetikabteilung beim Klauen hast erwischen lassen...“

Eine Zeitlang gab sie Ruhe. Dann kam der raffinierte Schachzug. Ich solle ihr die Haare schneiden, das wäre ganz einfach, man müsse nur alle zusammennehmen und in sich selbst drehen, als wringe man ein Küchentuch aus und dann an einer Stelle zack! abschneiden. Die Mutter ihrer Freundin hätte das bei ihrer Freundin gemacht und das sähe einfach klasse aus. Nach längerem Hin und Her folgte ich schließlich ihren Anweisungen. Sie marschierte zum Spiegel und die Katastrophe brach über mich herein:

Wie seh ich aus! Nirgends kann ich mich mehr blicken lassen! Ich möchte tot sein! Meldet mich auf einer anderen Schule an!

Da war ich dann die Jacke los.