Freiheit vor Sicherheit

Die freie Theaterszene muß ihre Bedürfnisse formulieren. Findet die Initiative Fördermodell 99 und ruft auf zur großen Zukunftsdiskussion  ■ Von Petra Kohse

„Wer ist zeichnungsberechtigt?“ fragt das Plakat des Theaters am Halleschen Ufer derzeit in der ganzen Stadt. Anhand bürokratischer Hierarchien die Moral zu thematisieren ist eine gute Idee und paßt im Allgemeinen wie im Speziellen: Denn an nichts mangelt es der freien Theaterszene Berlins (deren zentrale Spielstätte das Theater am Halleschen Ufer ist) im Augenblick so sehr wie an Verantwortung. Wer also ist zeichnungsberechtigt bei der zukünftigen Gestaltung dieser Szene, wer will es sein?

Daß kulturpolitisch Entscheidungsbedarf besteht, zeigte jüngst eine Diskussion in der Akademie der Künste. Eine umfassende Verwirrung und Unzufriedenheit der Theaterschaffenden wurde deutlich, welcher Kultursenator Peter Radunski mit dem einzigen Vorschlag begegnete, daß eine gewisse Anzahl kontinuierlich arbeitender Ensembles die Möglichkeit bekommen soll, sich in Konkurrenz zu den jetzigen Privattheatern um eine jeweils vierjährige Förderung zu bewerben. Das könnte in diesem Bereich zwar einen – vielleicht förderlichen – Verdrängungskampf eröffnen, hätte mit freiem Theater aber nichts mehr zu tun. Denn wenn die einzige Überlebenschance im Streben nach Institutionalisierung bestünde, wäre das der Tod der Szene.

Der das seufzt, ist Zebu Kluth, Leiter des Theaters am Halleschen Ufer und Mitglied der Initiative Fördermodell 99. Gemeinsam mit etwa 15 anderen KünstlerInnen und Kulturschaffenden ist er der Ansicht, daß eine Förderstruktur gefunden werden muß, die Kontinuität ermöglicht, ohne die Selbsterneuerung der Szene auszuschließen. Pfründendenken halten sie nicht nur für künstlerisch abträglich, sondern auch für anachronistisch. Denn was im Tanzbereich bereits seit Jahren selbstverständlich ist, setzt sich auch zunehmend in der freien Schauspielarbeit durch: daß Arbeiten als Koproduktionen mit Partnern außerhalb von Berlin entstehen und dann auf Tour gehen oder daß statt ganzer Ensembles nur zwei oder drei KünstlerInnen ständig zusammenarbeiten und wechselnde Gäste um sich scharen. Daß, kurzum, zu konstruktiver Arbeit Mobilität und Austausch gehören.

Da der Senatsvorschlag zur zukünftigen Förderung nichtstaatlichen Theaters diese Entwicklung völlig außer acht läßt, will die Initiative Fördermodell 99 die Theaterschaffenden dazu bringen, hier selbst die Verantwortung zu übernehmen. Kein leichtes Unterfangen. Denn die Zukunftsunsicherheit wird derzeit von einer allgemeinen künstlerischen Stagnation begleitet, die wiederum einzelkämpferische Versuche der Besitzstandswahrung nach sich zieht. Um so notwendiger erscheint der Initiative Fördermodell 99 eine Diskussion – nicht über Geld, sondern über eine künstlerische Standortbestimmung. Denn erst wer weiß, was er will, kann auch ein Fördermodell entwickeln helfen, mit dem es sich die nächsten Jahre leben läßt.

„Zukunftsperspektiven der Berliner freien Szene – Kopf hoch oder Bach runter?“ ist eine Podiumsdiskussion im Theater am Halleschen Ufer überschrieben, die die Szene am kommenden Montag zum Sprechen bringen will. Wobei Fragen der Machbarkeit zunächst zurückgestellt werden sollen. „Es muß erst einmal verflüssigt werden, was in letzter Zeit geronnen ist“, sagt Zebu Kluth. „Mit geht es darum, daß die Szene ein Bild von sich entwirft, wie sie sein will. Die Umsetzung davon ist dann Sache der Verwaltung.“

Um das zu erwartende Patchwork von Einzelvisionen von vornherein aufeinander zu beziehen, hat die Initiative bereits selbst den Kern eines Strukturmodells vorgeschlagen. Die obersten Prämissen dieses Modells heißen Flexibilität, Freiheit vor Sicherheit und qualitative Entscheidungen vor sozialer Ausrichtung. Quasiinstitutionelle Formationen sollen darin zwar den Platz bekommen können, den sie zu brauchen meinen, gelten aber keineswegs als erstrebenswertes Endziel einer Laufbahn im Off. Statt dessen imaginiert die Initiative analog zum Theater am Halleschen Ufer vier bis fünf weitere Spielstätten, die idealerweise Nebenräume haben sollten, damit mehrere Gruppen gleichzeitig unter einem Dach arbeiten können. Auf jeweils vier Jahre mit eigenen Produktionsmitteln ausgestattet, sollten diese Spielstätten von einem künstlerischen Leiter profiliert werden.

Denkbar wäre, so Zebu Kluth, ein Haus für klassisches Off-Theater, eines für Tanz, ein drittes für grenzüberschreitende Projekte zwischen Tanz und Schauspiel und so fort. Eine solche Konstruktion hätte zahlreiche Vorteile: Das Publikum wüßte, mit welcher Art von Theater es bei bislang unbekannten Gruppierungen zu rechnen hat. Der künstlerische Leiter wäre als Produzent für die jeweilige Arbeit verantwortlich, stünde bis zum Schluß beratend zur Seite, könnte auch einmal – bisher undenkbar – zum Wohl der Gruppe und des Hauses eine Premiere platzen lassen. Auch wäre es endlich möglich, „durch Koproduktionen Geld von außerhalb Berlins in die freie Szene zu holen“, meint Kluth. Es könnte ein langfristiger Spielplan erstellt werden, Gruppen hätten die Freiheit, ein Jahr zu touren und mit neuen Erfahrungen zurückzukommen.

Neben diesen Produktionsstätten müßte es weiterhin kurzfristig verfügbare Projektmittel geben, findet die Initiative Fördermodell 99 außerdem. Damit sich auch ganz junge KünstlerInnen ausprobieren können oder solche, die in keinem Spielstättenkonzept Platz finden. Idealerweise würde das Gremium für die Vergabe dieser Gelder aber ebenfalls aus dem Umfeld der Produktionsstätten besetzt – damit eben doch eine Verantwortung der Produzenten auch für die nachkommenden Gruppen entsteht und „es sich kein Produzent mit seinen jeweiligen zehn Gruppen gemütlich machen kann“ (Kluth).

Die Gefahr einer Machtkonzentration auf wenige Personen liegt auf der Hand. Wie ihr zu begegnen wäre, ist ebenso zu diskutieren wie der Vorschlag der Initiative, ein Servicebüro für die gesamte Szene einzurichten und dafür den SPOTT Verein, die derzeitige Interessenvertretung des freien Theaters, abzuschaffen oder einen Preis für risikoreiche und gelungene Nachwuchsproduktionen auszuloben.

Das alles klingt nach Professionalisierung und Offenheit, nach Übersichtlichkeit und Marktfähigkeit. Es setzt aber die Bereitschaft der freien TheatermacherInnen voraus, Abschied von einer ihrer bisherigen Freiheiten zu nehmen: von der Freiheit, ganz allein für Gelingen oder Mißlingen ihres Projekts geradestehen zu dürfen. Die Produzenten wären zeichnungsberechtigt, das heißt: Sie wären entscheidungsbefugt, trügen aber auch – anders als der derzeitige Kritikerbeirat – einen großen Teil der Verantwortung und müßten Rede und Antwort stehen. Für Zebu Kluth ist klar, daß „die Szene in ihrer momentanen unglaublichen Breite nicht überleben kann“. Ob „freies Theater“ auf lange Sicht ein Qualitätsbegriff werden kann, wird nicht unwesentlich davon abhängen, wie sich die KünstlerInnen zu der Notwendigkeit stellen, Verantwortung zu übernehmen – indem sie einen Teil davon abgeben.

Diskussion zur Zukunft der freien Theaterszene, Montag, 20.1., 20 Uhr, Theater am Halleschen Ufer (32). Das Konzept der Initiative Fördermodell 99 kann man sich faxen lassen, Tel. 2510655/56.