Maine – the way life should be

Hier oben im Norden der USA scheint das Leben noch in Ordnung. Viele Jugendliche ziehen fort in die Städte, aus Angst, auch noch das nächste Jahrhundert zu verpassen  ■ Von Cornelia Franz

Wir schreiben das Jahr 1997. Ganz Amerika bereitet sich auf das 21. Jahrhundert vor. Ganz Amerika? Nein. Irgendwo im Nordosten des Kontinents gibt es einen kleinen Staat, in dem die Menschen sich noch immer tapfer gegen das 20. Jahrhundert zur Wehr setzen. Während in zweihundert Städten der USA für Jugendliche ein nächtliches Ausgangsverbot erlassen wird, um die Bürger vor ihren randalierenden, raubenden und mordenden Sprößlingen zu schützen, kämpft man in den Wäldern von Maine mit anderen Problemen. Mit der Überschrift „Vandalismus trübte das Wochenende!“ rüttelt der Moosehead Messenger, der einmal wöchentlich in der abgelegenen Moosehead-Lake-Region erscheint, seine Leserschaft wach. Und rund um den mit dreihundert Quadratkilometern größten See des Bundesstaates, nur einen Steinwurf von der Grenze zu Kanada entfernt, liest man mit Kopfschütteln von dem alarmierenden Ereignis:

Der Fiberglas-Elch an der Straße zwischen Greenville und Rockwood wurde Opfer eines Attentats. In der Nacht von Samstag auf Sonntag bewarfen Unbekannte die Figur mit einem Stein, wobei der Elch einen zehn Zentimeter langen Kratzer an der Schulter davontrug. Der oder die Täter hinterließen einen faustgroßen Stein am Tatort, der in die Bundeshauptstadt Augusta geschickt wurde, um auf Fingerabdrücke untersucht zu werden. Aber auch Positives weiß die Lokalzeitung von diesem Wochenende zu berichten: Lillian Harrington aus Greenwich bekam Besuch von ihrem Sohn Ernie Harrington, Bernice Canders veranstaltete einen Picknick-Lunch, zu dem zwanzig Gäste kamen, und Mr. und Mrs. Talbott aus Kokadjo hatten ihre Kinder aus Massachusetts zu Besuch.

„Maine – the way life should be“. Das Motto des Neu-England-Staates bringt es auf den Punkt: Hier oben hoch im Norden scheint die Welt noch in Ordnung. Hier läßt man die Tür offen, wenn man das Haus verläßt. Hier kennen sich die Nachbarn, auch wenn sie zehn Meilen auseinander wohnen.

Maine ist größer als Österreich, aber kaum mehr als eine Million Menschen leben hier. Rund 90 Prozent des Staates sind von Wäldern bedeckt, in denen noch Elche und Bären zu Hause sind. Sieben Prozent des Landes bestehen aus Wasser; die 2.787 Seen und 5.000 Flüsse und Flüßchen machen Maine zu einem Anglerparadies. An der wild zerklüfteten Atlantikküste wird so viel Hummer gefangen wie sonst nirgends in den USA. Nicht nur im Oktober zur Zeit des Indian Summer, wenn die Wälder in glühendroten Farben prangen, ist das ganze Land ein einziges Naturerlebnis. „Vacationland“ haben die AutofahrerInnen in Maine auf ihren Nummernschildern stehen, weil sie dort leben, wo andere Urlaub machen.

Ohne Zweifel, Maine ist einer der schönsten Staaten der Vereinigten Staaten – und einer der ärmsten. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt hier weit unter dem US- Durchschnitt, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Der einst blühende Schiffbau ist auf ein Minimum geschrumpft; der Export von Eisblöcken in die Südstaaten hat sich im Zeitalter der Kühlschränke erübrigt. Nur der Tourismus und die Holzwirtschaft bieten noch in nennenswerter Weise Lohn und Brot.

Aber auch hier wackelt das Bild vom Musterländle, wenn man genau hinschaut. Um rund 25 Prozent hat die Holz- und Papierindustrie seit 1980 die Arbeitsplätze reduziert. Etliche der Flüsse und Seen des Staates sind durch Abwässer der Papiermühlen mit Dioxin und anderen Giften verseucht. Und der Raubbau am Wald geschieht weitaus schneller als die Wiederaufforstung. Protest gegen solcherlei Umweltsünden wird oft schnell im Keim erstickt, denn die Papiergesellschaften sind mächtig: Ein Drittel der gesamten Fläche Maines liegt in der Hand von sieben Unternehmen; das größte, die Great Northern Paper Company, besitzt rund ein Zehntel des Landes.

Ein Gesetz, das das Abholzen der Wälder beschränken sollte, wurde im November von der Mehrheit der Bürger abgelehnt. Die Angst, noch mehr Arbeitsplätze zu verlieren, ist letztendlich größer als die Sorge um eine intakte Natur – auch wenn diese wiederum das Kapital ist, von dem die örtliche Tourismusindustrie lebt.

Viele Städte und Dörfer Maines leiden seit Jahren unter dem Phänomen der Landflucht. Die jungen Leute verlassen ihre idyllisch gelegenen, aber verschlafenen Heimatorte. Sie gehen nach Boston, New York oder Chicago, getrieben von der hohen Arbeitslosigkeit und den niedrigen Löhnen – und nicht zuletzt von der Angst, auch noch das nächste Jahrhundert zu verpassen. Sie wollen nicht, wie ihre Eltern, auf der Veranda des selbstgebauten Holzhauses hocken und auf Gelegenheitsjobs warten. Der Spruch, den manche der Kids auf ihren T-Shirts tragen, verrät mehr Frustration als Nostalgie: „Maine – the way life used to be. When everybody else is moving to the 21. century, we're still waiting for the 20th to come“.

Zum Glück wurde das nächtliche Ausgangsverbot für Jugendliche in den USA gerade für verfassungswidrig erklärt. Sonst würde wohl so manch einer der Auswanderer reumütig zurückkehren in sein Touristennest am Atlantik oder in sein Dorf am Moosehead Lake – wo er dann seinem Frust mit einem Steinwurf gegen einen wehrlosen Fiberglas-Elch Luft machen müßte.