Außenseiter, Spitzenreiter

Im Juni jährt sich der Geburtstag des Soziologen Norbert Elias zum 100. Mal. Schon jetzt ist ein Sammelband erschienen, der den Stand der Elias-Forschung zusammenfaßt  ■ Von Jörg Hackeschmidt

Der Kultursoziologe und Menschenwissenschaftler Norbert Elias war ein Außenseiter und „Spätkommender“, wie er selber von sich sagte. In der Tat: Erst mit dem Erscheinen der Taschenbuchausgabe seines Hauptwerkes „Über den Prozeß der Zivilisation“ 1976 begann eine Rezeptionswelle ohnegleichen. Seitdem wurde der damals fast Achtzigjährige nicht nur mit Preisen und Würdigungen überschüttet und entwickelte sich in rasendem Tempo zum „Klassiker“ der Soziologie. Eine ständig wachsende Gemeinde an Schülern, die sich in der internationalen „Norbert-Elias-Foundation“ organisiert hat, sorgt dafür, daß seine kulturorientierte Soziologie auch in den angrenzenden kultur- und geisteswissenschaftlichen Fächern methodischen Niederschlag findet.

Der Geburtstag des Soziologen jährt sich am 22. Juni dieses Jahres zum 100. Mal. Den wissenschaftlichen Stand der Dinge vor dem Elias-Jahr faßt ein Sammelband zusammen, der jetzt, mit fast zweijähriger Verspätung, bei Suhrkamp unter dem Titel „Norbert Elias und die Menschenwissenschaften“ erschienen ist. Der Band umfaßt 22 Beiträge unterschiedlichster wissenschaftlicher Provenienz und gliedert sich in die drei Teile: „Werke und Person“, „Elias' Rezeption in den Kulturwissenschaften“ und „Theorievergleiche“.

Michael Schröter, der Herausgeber der späteren Elias-Werke, gestattet mit seinem Beitrag „Die harte Arbeit des kreativen Prozesses“ dem Leser einen tiefen Einblick in die Werkstatt des Soziologen Elias. Schreiben bedeutete für Elias „harte Arbeit“. Ihm machte „das Einfangen, das Entfalten und Polieren von Gedanken Mühe“, was sich nicht nur in einer Reihe von Textversionen niederschlug. Er flocht auch in alte Manuskripte unablässig neue Ideen ein. Das konnte, wie Schröter aus seiner 14jährigen Zusammenarbeit mit Elias zu berichten weiß, auch dazu führen, daß ältere Gedankengänge in den Hintergrund traten oder nie zu Ende geführt wurden. Kurz: Elias war ein assoziativer Denker, der es nur schwerlich fertigbrachte, aus dem Produktionsvorgang herauszutreten, um ein Werk schließlich druckfertig zu machen. Aus diesem Grund ist es auch eine der schwierigsten Fragen für die Nachlaßverwalter, wie man mit der Fülle von unfertigen Produkten umgehen soll, die Elias offensichtlich hinterlassen hat und deren Konzeption bis in die vierziger Jahre zurückreicht.

Zu den Bereicherungen des Sammelbandes zählt der Beitrag des britischen Soziologen Richard Kilminster, der der „Nähe und Distanz“ zwischen Norbert Elias und Karl Mannheim nachspürt. Die Lebensläufe von Mannheim und Elias waren zwölf Jahre lang eng miteinander verknüpft, nämlich von 1925 bis 1939. Ganz offensichtlich „müssen sie eine besonders fruchtbare Partnerschaft gebildet haben“, so Kilminster. Trotzdem sind kaum Verweise aufeinander in ihren Arbeiten zu finden. Kilminster ließ sich davon nicht beirren und legt akribisch die Berührungspunkte ihres Denkens frei. Er spart auch nicht mit Kritik an der Literatur zu Mannheim. Denn dort sei „die Möglichkeit, daß Mannheim in der zwölf Jahre langen engen Verbindung mit einem Soziologen vom Range Elias' diesem bei der Herausbildung seiner Ideen etwas zu verdanken gehabt haben könnte, nicht einmal in Erwägung gezogen worden“.

Interessant ist auch der Beitrag von Richard van Dülmen, der die Eliassche Zivilisationstheorie mit den Augen des Historikers einer kritischen Würdigung unterzieht. Van Dülmen konstatiert, daß es noch immer keine grundlegende Auseinandersetzung eines deutschen Historikers mit der Eliasschen Zivilisationstheorie gebe – und das, obwohl „kaum ein Soziologe mit einem so eindeutig historischen Erklärungsmodell hervorgetreten ist wie Elias“. In der Tat: Elias hat schon in den dreißiger Jahren Probleme formuliert, die erst in den achtziger Jahren wieder aufgegriffen wurden. Richtig ist allerdings, daß Elias den historischen Forschungsstand stellenweise schlicht ignorierte, und zwar keineswegs zu seinem Vorteil, man denke nur an die französische Annales-Schule.

Trotzdem kommt Elias das Verdienst zu, die neue anthropologisch orientierte Kulturgeschichte entscheidend mitgeprägt zu haben. Genau darüber hätte man von van Dülmen gern mehr erfahren, der Elias zu sehr aus dem Blickwinkel des Frühneuzeithistorikers sieht. Daß Elias und sein Figurationenmodell unter Historikern zunehmend auf Interesse stößt, beweisen Überlegungen etwa von Wolfgang Jäger, der sich 1995 im „Archiv für Kulturgeschichte“ mit der Beziehung von „Menschenwissenschaft“ und historischer Sozialwissenschaft auseinandergesetzt hat.

Besonders aufschlußreich sind die beiden Beiträge von Karl-Siegbert Rehberg, dem Herausgeber des Bandes, und Peter-Ulrich Merz-Benz. Beide interessieren sich für den Zusammenhang von Werk und Person. Rehberg, Professor an der TU Dresden, beschäftigt sich unter anderem mit der Außenseiterrolle Elias', die dieser auch dann nicht ablegte, als er längst zu einem Etablierten in der Zunft der Soziologen avanciert war. Rehberg zielt damit auf eine der zentralen Fragen der Elias- Forschung. Denn Elias hat sich nicht nur selbst als Außenseiter gesehen und stilisiert. Er hat sich auch als Wissenschaftler immer wieder mit dem Verhältnis von Etablierten und Außenseitern beschäftigt. Was aber ist ein Außenseiter? Rehberg erinnert daran, daß dieser Begriff immer von einem Zentrum her gedacht ist. „Jede Zentrierung ist gleichbedeutend mit der unablässigen Produktion von (relativen) Außenseitern.“ Jede Gruppe, die über einen Machtvorteil verfügt, stabilisiert ihre Rangüberlegenheit auch durch die Selbstzuschreibung eines „Charisma“. Gleichzeitig produziert die Etabliertengruppe die „Schande“ einer als niedriger stehend definierten Gruppe.

Nicht übersehen werden darf dabei, daß es auch antizentristische Außenseiterentwürfe gibt, also „die Hochschätzung einer Sonderposition jenseits der Normallage“. Alle Selbstmythisierungen einer Gruppe, sei es als intellektueller oder avantgardistischer Zirkel, sei es als ein Volk von „Ariern“, fällt unter dieses Phänomen. Auch für Elias selbst war diese Seite des Außenseitermotivs wichtig, da es von ihm als unabdingbar für intellektuelle Pioniertaten angesehen wurde, abseits zu stehen und trotzdem Anteil an soziokulturellen Prozessen nehmen zu können. „Engagement und Distanzierung“ lautet dementsprechend auch ein zentrales Begriffspaar der Eliasschen Soziologie.

Peter-Ulrich Merz-Benz, der als Philosoph und Soziologe an der Universität Zürich lehrt, widmet sich in seinem Beitrag den frühen Breslauer Jahren von Nobert Elias bis 1925. Elias war Anfang der zwanziger Jahre Doktorand bei Richard Hönigswald, einem Neukantianer, und tauchte erst 1925 in Heidelberg auf. Dort wollte er sich bei Alfred Weber, dem Bruder Max Webers, habilitieren. Über die Studienzeit von Elias ist bisher kaum etwas bekannt geworden, obwohl er in den Jahren 1918 bis 1924 die Grundformen seiner wesentlichen Begriffe sowie sein aufklärerisches Ethos entwickelt hat. Merz-Benz analysiert die Auseinandersetzung des Philosophiestudenten Elias mit seinem akademischen Lehrer Hönigswald und unterstreicht die Bedeutung des Essays „Vom Sehen in der Natur“, den der junge Elias 1921 in der Führerzeitung des zionistischen Jugendbundes „Blau-Weiß“ veröffentlicht hat.

Ein gelungener Abschluß des Bandes ist der Beitrag von Dirk Käsler. Er stellt Elias in überzeugender Weise als „europäischen Soziologen des 21. Jahrhunderts“ dar, auch wenn man dem Text beim Lesen anmerkt, daß es sich um ein Redemanuskript handelt – was im übrigen auf mehrere Beiträge des Bandes zutrifft. Käsler sieht in Elias unter anderem deswegen „eine mögliche Gründerfigur einer europäischen Soziologie“, da Elias vorgemacht habe, wie die „falsche Dichotomie“ von „Individuum“ und „Gesellschaft“ in der Soziologie aufgehoben werden kann. Darüber hinaus habe er gezeigt, wie die „unheilvolle Trennung“ der menschenwissenschaftlichen Disziplinen ebenso wie diejenige von „Theorie“ und empirischer „Praxis“ überwunden werden kann. Vor allem aber habe Elias vorexerziert, „wie man von einer nationalstaatlich befangenen Soziologie zu einer europäischen Soziologie kommen kann.“

„Norbert Elias und die Menschenwissenschaften“, hrsg. von Karl- Siegbert Rehberg, Suhrkamp Verlag, 451 Seiten, 29,80 DM