■ Auf dem Bundesparteitag der PDS am Wochenende in Schwerin fraßen die Delegierten ihren Hoffnungsträgern aus der Hand. Einen "Zuwachs an Politikfähigkeit" muß die Partei noch beweisen
: Sehnsucht nach einer Autorität

Auf dem Bundesparteitag der PDS am Wochenende in Schwerin fraßen die Delegierten ihren Hoffnungsträgern aus der Hand. Einen „Zuwachs an Politikfähigkeit“ muß die Partei noch beweisen

Sehnsucht nach einer Autorität

Gregor Gysi führte sich auf wie Speedy Gonzales. Er raste durch die Schweriner Kongreßhalle und enterte trotz seiner 1,64 Meter mit nur einem Satz das Podest, auf dem die Fernsehkamera stand. Lothar Bisky war gerade als neuer Parteivorsitzender gewählt und bedankte sich noch brav bei den Delegierten, da erklärte Gysi im Fernsehen schon, was gerade gelaufen war. Live demonstrierte die Parteispitze unverhüllt ihre Arbeitsweise: Gysi, PDS-Fraktionschef im Bundestag, ist Aushängeschild und Verkäufer der Partei, Bisky, der Vorsitzende, ihr Moderator. Ein Star und ein Antistar.

Das ist nicht mehr so selbstverständlich, wie es einmal war. Gysi hat sich in den letzten Monaten mit seiner Kritik, vor allem aber mit seinem öffentlich zur Schau getragenen Leiden an der Partei nicht gerade beliebt gemacht. Das hatte er am ersten Tag in Schwerin zu spüren bekommen. „Überflüssig“ seien seine Äußerungen gewesen, hieß es. Doch am Samstag morgen hatte Gysi die Partei wieder voll im Griff.

Mit Wut im Bauch hielt er eine Rede, die die Delegierten von den Sitzen riß. Er gab ihnen alles, was sie brauchten: politische Orientierung, Leidenschaft, Witz und, wie es sich für eine linke Partei gehört, Kritik und Selbstkritik. „Es genügt nicht, daß wir in Beschlüssen den Westen sozusagen gelegentlich mitformulieren. Es ist wichtig, die Probleme der Menschen in den alten Bundesländern mitzufühlen und mitzudenken.“ Beifall. „Und da könnt ihr mich nicht einfach allein lassen, ich sage das deutlich, da müßt ihr einfach mitkommen in die alten Bundesländer, sonst ist das nicht zu packen.“ Wieder Beifall, als wäre der Westen nicht gerade das, was den meisten wirklich fremd ist. Gysi weiß das. So rief er ihnen zu: „Laßt uns nicht den Fehler machen, uns als Fremdkörper auch noch wohl zu fühlen und zu kultivieren. Wir sind kein Fremdkörper! Wir wollen ein Teil dieser Gesellschaft sein.“ Jetzt hielt die Parteitagsdelegierten nichts mehr. Sie hatten genau das, worauf sie am ersten Tag so vergeblich gewartet hatten: einen, der der Partei Glanz verleiht, eine Autorität, die ihnen sagt, wo's langgeht.

Da verziehen sie ihm auch, daß er nicht für den Bundesvorstand kandidieren wollte, obwohl er doch immer gesagt hatte, daß er nur dann kandidiere, wenn sich die Partei nach vorn bewege. Hatte sie das eben etwa nicht? Ob er im Vorstand sitze, sei nicht von Bedeutung, erklärte er ihnen jetzt, wichtig sei, daß die Partei 1998 in den Bundestag komme. Dafür wolle er sich weiter politisch einmischen. Das reichte allen als Erklärung.

Aus der engeren Umgebung von Gysi war zu hören, er habe sich bereits vor Monaten entschieden, nicht wieder für den Vorstand zu kandidieren. Als Fraktionschef in Bonn habe er als ständiger Gast in den Vorstandssitzungen sowieso Stimmrecht. Also hat Gysi die Partei wieder einmal erpreßt? Seine politischen Freunde sehen das profaner: Gysi lebe im Moment ein bißchen zu sehr seinen persönlichen Frust aus. Einige meinen, er sei in einer Art Midlife-crisis. „Vielleicht ist es auch verzichtbare Eitelkeit“, sagt Roland Claus, der Landeschef aus Sachsen-Anhalt. Aber nach diesem Parteitag sind sie sich alle sicher: Gysi wird die PDS auch 1998 wieder in den Bundestagswahlkampf führen.

Die Delegierten fragten nicht weiter, sie wollten allein ihrem Gefühl folgen. Für sie entlud sich in diesem Moment die Spannung, die vor Schwerin überall in der Partei spürbar war. Jetzt strahlten alle. Sie hatten ihren Gregor wieder. Die PDS war wieder mit sich im reinen. Jetzt hatte die Parteispitze die Basis genau da, wo sie sie haben wollte. Die Delegierten fraßen ihren Hoffnungsträgern jedes Stück Zucker aus der Hand, das ihnen hingehalten wurde. Nachdem am ersten Tag schon der Leitantrag über die Regierungsbeteiligung überraschend geräuschlos über die Bühne gegangen war, wurden nun die Leitanträge zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit sowie eine soziale und ökologische Steuerreform geschäftsmäßig diskutiert und mit großer Mehrheit verabschiedet.

Im Vorfeld gab es in der PDS Streit an allen Ecken und Enden – und jetzt drohte der Parteitag zeitweise einzuschlafen. Das Motto lautete nicht mehr „Sozial, solidarisch, alternativ“, sondern „Sozial, solidarisch, leidenschaftslos“. Am Ende wurden auch bei den Vorstandswahlen fast alle Wunschkandidaten der Parteispitze gewählt, unter ihnen die theoretischen Köpfe der Reformer, André Brie und Dieter Klein. „Diese Zustimmung ist fast schon gespenstisch“, fand Lothar Bisky.

Hinter dem, was der Parteivorsitzende aber auch als als „Zuwachs an Politikfähigkeit“ interpretiert, weil die PDS endlich mal nicht über ihre Seelenlage debattiert habe, verbirgt sich ein ernsthaftes Problem der Partei. Sie muß ihre Reformfähigkeit mit politischen Konzepten beweisen, die den harten gesellschaftlichen Realitäten standhalten. „Wir neigen immer noch dazu, uns auf Parteitagen eine Wunschrepublik zu beschließen“, sagte Roland Claus. Er weiß, wovon er spricht – sein Landesverband hat gerade den Haushalt der rot-grünen Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt nicht nur gestützt, sondern selbst mit ausgearbeitet.

Die Leitanträge zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und das Steuerkonzept hält er für wichtige Anfänge – für mehr nicht. „Wir können unsere Defizite nicht hinwegbeschließen. Wir können ruhig zugeben, daß wir an vielen Punkten noch überfordert sind“, sagte Claus und erinnerte daran, daß die PDS hierbei ein schweres Erbe der SED zu tragen hat. „Wir waren doch jahrzehntelang von modernen linken Diskursen abgeschnitten.“

Genau dies sehen auch Kritiker wie der Hamburger Politologe Joachim Raschke, der die PDS deswegen für langweilig hält. Sie verfolge kein einziges Modernisierungsprojekt und empfehle lediglich klassisch-sozialdemokratische Konzepte der Umverteilung. Dieter Klein, Ökonomieprofessor an der Berliner Humboldt-Universität und so etwas wie der Nestor der PDS-Reformer, widerspricht dem. „Ist in einer Zeit, in der wir sechs Millionen Arbeitslose haben, die soziale Frage etwa kein Modernisierungsprojekt?“ Klein nennt ein Beispiel: Der öffentlich geförderte Beschäftigungssektor, den die PDS auf dem Parteitag diskutiert habe, sei ein Thema, das über bloße Umverteilung von oben nach unten hinausgehe.

Natürlich ist auch Dieter Klein klar, daß die PDS, was politikfähige Konzepte betrifft, schlecht dasteht. Aber er sieht in ihrem altmodischen DDR-Gepäck, in der traditionellen und einseitigen Beschäftigung mit Werten wie Gleichheit und sozialer Sicherheit, nicht nur einen Ballast. Dieses Erbe sei durch die radikalen sozialen Veränderungen in der Gesellschaft plötzlich wieder aktuell geworden.

Der auch im Westen geschätzte Dieter Klein, der im neuen Parteivorstand zusammen mit André Brie maßgeblich für die Formulierung moderner Politikkonzepte verantwortlich sein wird, bleibt skeptisch, ob die PDS wirklich die linkssozialistische Reformpartei wird, die sie heute schon gern sein möchte. „Ich bin kein übertriebener Optimist“, sagt er. Aber er hält es mit Hermann Hesse. „Der hat über Konfuzius gesagt: Konfuzius weiß, daß es nicht geht, und tut es trotzdem.“ Jens König, Schwerin