Wo bleibt die Wahrheitssünderkartei? Von Mathias Bröckers

Erinnert sich noch jemand, wie uns Krücke Lambsdorff als Wirtschaftsminister seinerzeit mit den Tigerstaaten drohte: wie da der Malaye noch richtig ackert und der Koreaner tierisch reinhaut, ohne Urlaubs-, Kranken- und Kündigungs-Firlefanz? Da geriet der Markt-Graf fast so ins Schwärmen wie weiland die Kolonialherrn über die Naturkraft des Negers – ohne zu erwähnen, daß sich die asoziale Marktwirtschaft nie lange hält, die Arbeiterschaft in „Billiglohnländern“ sich nicht lange mit einem Butterbrot abspeisen läßt.

Die massive Streikwelle in Korea zeigt das gerade einmal wieder. So muß der Kolonialzirkus zur Rekrutierung neuer Sklaven immer neue Hinterländer erobern – um zu Hause weiterlügen zu können, das Lohnniveau sei zu hoch und die Arbeit zu teuer. Oder, wie der Lambsdorff-Nachfolger Rexrodt letzte Woche tönte, der bestehende Kündigungsschutz verhindere die Schaffung neuer Arbeitsplätze. In Orwells „1984“ hieß die für offizielle Lügen zuständige Behörde „Ministerium für Wahrheit“, in Deutschland 1997 braucht es eine solche plumpe Tarnung nicht mehr: Durch inflationären Gebrauch ist die politische Lüge ununterscheidbar geworden von der Wahrheit. Und kein Kontrollorgan, kein Parlament, keine Opposition, kein Medium weist die Falschspieler in die Schranken.

So kommt es, daß eine schamlose Megalüge wie die „große Steuerreform“ tagtäglich weiter verbreitet wird, wo doch jedes Kind sehen kann, daß dies nur ein Tarnbegriff für eine weitere Umverteilung von unten nach oben ist. Die Abschaffung der Vermögenssteuer und die Senkung der Spitzensteuersätze für die oberen Zehntausend muß von den unteren 70 Millionen mit höherer Mehrwertsteuer bezahlt werden – das war von Anfang an völlig klar. Doch welcher unserer 38 TV-Kanäle führt uns die Lügenzitate zur Mehrwertsteuererhöhung aus den letzten Jahren in Endlosschleife vor? Warum werden die Regierungslügen, von Kohls „blühenden Landschaften“ abwärts, nicht permanent dokumentiert? Warum gibt es das Tor des Monats, den Hit der Woche sowie Bambis, Oscars und Orden für jeden Mist, aber keine Instanz, die sich um so etwas Substantielles wie Wahrheit kümmert und politische Lügner auszeichnet? Auf einer nach oben offenen Barschel-Skala, mit dem Münchhausen des Monats oder dem Goebbels in Gold für besondere demagogische Leistungen.

Als der Erfinder des Lügendetektors, Cleve Backster, sein Hautwiderstands-Meßgerät an eine Zimmerpflanze anschloß, entdeckte er den „Backster-Effekt“: Schon als er den Entschluß faßte, das Blatt mit einem Streichholz zu versengen, reagierte die Pflanze. Im Idealfall könnte ein öffentlicher Lügendetektor ähnliche Effekte verursachen: Schon die Existenz eines potentiellen Prangers, der Entschluß, überführte Lügner konsequent dem medialen Scheiterhaufen zu überantworten, würde zu Reaktionen führen. Die hemmungslosen Emissionen von Schwafeldioxid und verbaler Dünnsäure in der Politik würden zurückgehen. Halbwegs brauchbare Kriterien, um zumindest die dreistesten Lügner dingfest zu machen, ließen sich leicht finden. Windige Figuren wie die Nullität Rexrodt wären dann allenfalls noch ein paar Wochen im Amt. Und das wäre doch schon mal was.