Entgegnung auf Hüseyin Hatemi
: Verfälschung statt Wahrheit? Nein danke!

■ Nächstenliebe statt Toleranz forderte Hüseyin Hatemi in der Intertaz vom 7.Januar

Artikel in der taz, die sich mit Scheidungs- oder Abtreibungspolitik im stockkatholischen Irland oder Polen befassen, zeigen im allgemeinen wenig Toleranz mit der rückwärtsgewandten katholischen Doktrin! Nicht so, wenn es sich um den Islam handelt. Fürsprecher dieser nicht minder rückwärtsgewandten Religion finden hier ein tolerantes Betätigungsfeld, um für den Islam zu werben, um Verständnis für diesen Glauben zu erwecken.

Über die Vorzüge von Religionen sollte man nicht diskutieren. Beide Richtungen, Katholizismus und Islam, haben jahrhundertelang – und tun das noch bis in unsere Tage – mit einem strengen Kontrollsystem und ihrem die Freiheit des einzelnen einengenden Moral- und Sittenkodex Druck auf ihre Gläubigen ausgeübt.

Wenn aber Diskussionen in Gang gesetzt werden, müssen die Argumente auf dem Teppich bleiben, und die Tatsachen dürfen nicht verfälscht werden. Eine geradezu hanebüchene Verfälschung der Tatsachen ist die Behauptung von Prof. Hüseyin Hatemi, daß „die Toleranz in der Türkei eine religiöse Selbstverständlichkeit“ sei.

Von den Armeniern soll nun nicht die Rede sein, denn vielleicht rechnet er nach guttürkischer Diskussionstaktik die grausame Vernichtung der christlichen Armenier im Ersten Weltkrieg durch moslemische Kurden und Türken auf mit der grausamen Vernichtung von Juden, Sinti und Roma durch christliche Deutsche im Zweiten Weltkrieg. Wenn jedoch in der Türkei Toleranz eine religiöse Selbstverständlichkeit ist, wie kommt es dann zu einem Exodus von 20.000 drangsalierten syrischen Christen („Assyrer“) zu unserer Zeit, seit den 60er Jahren? Warum wurden christliche Schüler gezwungen, am moslemischen Moral- und Ethikunterricht teilzunehmen? Warum wurde der Unterricht in aramäischer Sprache und Schrift verboten? Warum schritt die Polizei nicht ein und half den Christen, wenn ihre Gärten und Häuser von moslemischen Nachbardörfern geplündert wurden? Warum regte sich kein türkischer Rechtsprofessor an den Rechtsfakultäten darüber auf, daß die aramäisch sprechenden Christen ihren Kindern keine aramäischen Namen geben durften? Warum schritt aus der toleranten moslemischen Umwelt niemand gegen all dieses Unrecht an Andersgläubigen ein? Warum protestierte die Presse nicht? Warum dürfen türkische Staatsbürger, die mit einer Christin verheiratet sind, nicht Offiziere werden?

Da sind wohl die Formulierungen „unseres lieben Mystikers“ Yunus Emre zur Nächstenliebe auf der Strecke geblieben?

Doch nicht nur für die heimischen Christen, auch für die Juden und vor allem die Aleviten in der Türkei muß die Prahlerei des Istanbuler Rechtsprofessors von der „Toleranz als religiöser Selbstverständlichkeit“ wie ein Hohn klingen. Übergriffe bis zum Mord gegen die Aleviten kommen ständig vor, zuletzt am spektakulärsten 1993 in Sivas und 1995 in Istanbul.

Zu Recht klagt der Professor aus Istanbul über eine Mauer aus Mißverständnissen und Vorurteilen zwischen Christen und Muslimen. Schuld hätten beide. Auch darin stimme ich ihm zu. Warum aber verlangt er, daß man einräumen solle, die Nichtmuslime hätten zuerst mit dieser Mauer begonnen, und bietet dafür ein Beispiel aus dem London des 18. Jahrhunderts? Erstens ist es völlig gleichgültig, wer in Mittelalter oder Neuzeit böser oder besser war, denn wir brauchen eine Lösung für jetzt, das 20./21. Jahrhundert, und zweitens ist auch diese Behauptung eine Verdrehung historischer Tatsachen, die einfach richtiggestellt werden sollten: Christen und Juden, zwar „Schutzbefohlene“, wurden bereits im 7. und 8. Jahrhundert seit den Verordnungen der Kalifen Omar I. und Omar II. beträchtlich in der Ausübung ihrer Religion, im Eherecht und im Handelsregister eingeschränkt.

Total heuchlerisch ist nun aber die Anführung des Koranaufrufes an die „Leute des Buches“ (= Christen und Juden): „Kommt her ... daß wir Gott allein dienen und ihm nichts beigesellen.“ Jeder halbwegs mit dem Islam vertraute Leser weiß, daß die Christen nach muslimischem Verständnis dem einen einzigen Gott ein zweites und drittes Wesen „beigesellen“, und durch die Beigesellung von Jesus und Heiligem Geist zu Gott verläßt der Christ nach muslimischer Auffassung den Eingottglauben und wird zum Götzendiener.

Die Überzeugung Hüseyin Hatemis, daß für die Muslime „der Islam die allen gemeinsame Religion, deren Botschafter Abraham, Moses, Jesus und der letzte große Gesandte (nämlich Mohammed) waren“, bedeute, heißt nichts anderes, als daß der Islam die anderen beiden Buchreligionen schluckt. So schön und versöhnlich die Vorstellung sein mag, Christen und Muslime hätten einen gemeinsamen Gott, sie ist leider falsch.

Ein so tendenziöser Artikel wie der des Prof. Hatemi, der die Aufforderung des Korans an die Christen zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit ganz im Sinne des Islam interpretiert, kann nicht zum Verständnis zwischen Christen und Muslimen beitragen. Es ist sein gutes Recht, seine Religion für die beste zu halten. Offenbar wird bei einem Teil der Öffentlichkeit in Deutschland dieses Zugeständnis nur der moslemischen Seite zugebilligt. Wir sollten aber fordern: Verständnis für alle Seiten, alle Ängste, alle Wünsche. Mit christlichen Gemeinden, die sich vor zunehmendem Einfluß des Islam fürchten, sollte mit dem gleichen gebotenen Ernst diskutiert werden wie mit den moslemischen.

Ich teile nicht die Position der Gegner des Gebetsrufes. Das Problem des Gebetsrufes ist meines Erachtens nicht nur ein religiöses, sondern in weit größerem Maße ein politisches. Die Politik muß, wie in Frankreich, letztendlich auch wie in der laizistischen Republik Türkei, die bis in die 80er Jahre alle Symbole (zum Beispiel das Kopftuch) der als Privatsache deklarierten Religion aus dem öffentlichen Leben verbannt hatte, die Maßstäbe setzen. Irina Wießner, Turkologin