■ Wenn die Türkei in die EU aufgenommen werden will, muß es ihr gelingen, Teil der modernen Zivilisation zu werden! Ein Aufruf deutsch-türkischer Intellektueller
: Auslandstürken verweigern Ankara die Gefolgschaft

Die Türkei ist dabei, sich immer mehr von Europa beziehungsweise von der modernen Zivilisation zu entfernen. Statt ihren Problemen beizukommen, verstrickt sie sich so in immer größere Probleme.

Die Türkei erhebt gleichzeitig den Anspruch, historischer Bestandteil der modernen Zivilisation zu sein, zumindestens ist es von jeher ihr Ziel gewesen. In der Praxis sieht es jedoch anders aus, die diesbezüglichen Bemühungen sind ergebnislos geblieben. Als Beispiel sei das Verhältnis der Türkei zur Europäischen Union genannt. Der Prozeß, der mit der Zollunion eingleitet wurde, sollte die Türkei der Europäischen Union einen Schritt näher bringen, die Erfahrungen haben jedoch das genaue Gegenteil bewiesen.

In Anbetracht dieser besorgniserrregenden Entwicklung ist es uns, den in Europa lebenden Türken, ein Beddürfnis, uns an die Öffentlichkeit zu wenden.

Die türkische Öffentlichkeit muß Verständnis dafür haben, daß wir, die wir in Europa leben und der modernen Zivilisation verpflichtet sind, die Ereignisse mit Besorgnis verfolgen. Denn ob es den Türken in Europa gelingen wird, sich von dem Stigma, Menschen zweiter Klasse zu sein, zu befreien, hängt hauptsächlich von den Schritten ab, die die Türkei zu unternehmen gedenkt, um Teil der modernen Zivilisation zu werden. Die Bürger der EU-Mitgliedstaaten werden europaweit nicht mehr als „Ausländer“ behandelt. Aber wir, die größte Gruppe von Migranten in Deutschland, haben immer noch den Status Bürger zweiter Klasse inne. Deshalb ist es unsere Überzeugung, daß wir Türken beziehungsweise Intellektuelle türkischer Abstammung das uneingeschränkte Recht genießen, zu den Belangen der Türkei Stellung zu nehmen.

Die grundlegende und alles entscheidende Frage, die sich der Türkei nun stellt, ist folgende: Wird sich die Türkei den gemeinsamen Werten der modernen Zivilisation anschließen? Diese Frage werfen wir trotz all der Widersprüche und Ungerechtigkeiten auf, welche die moderne Zivilisation in sich birgt. Obgleich sie nur selten über die Theorie hinausgeht, steht sie doch für die fortschrittlichen Maßstäbe, deren sich die Menschheit heute im Umgang mit Demokratie und Menschenrechten bedient.

Von Europa aus betrachtet, schätzen wir die gegenwärtigen Entwicklungen in der Türkei wie folgt ein:

Indem Staat und Regierung, Folterungen nicht verhindern, Gedankenfreiheit bestrafen, ungeklärte Morde geflissentlich übersehen, Rechtsstaatlichkeit untergraben, entfernt sich die Türkei rasant von Europa. Die ablehnende Haltung gegenüber einer so hochgeachteten Organisation wie amnesty international, die unter Berufung auf die Menschenrechte, Grundfreiheiten und Demokratie an diesen Zuständen Kritik übt, ist ein sicheres Indiz dafür, daß die Türkei immer mehr von der modernen Zivilisation abrückt. Die türkische Regierung kümmert es nicht im geringsten, daß vor dem Europarat über 600 Verfahren wegen Mißachtung der Menschenrechtskonvention gegen sie eingeleitet wurden. Daß dadurch die Mitgliedschaft der Türkei im Europarat gefährdet ist, läßt auch einen Großteil der Öffentlichkeit unberührt. Es wird kaum erwähnt, daß dies einer Ablösung von Europa gleichkommt. Viele wiegen sich in dem einfältigen Glauben, daß alles so weitergehen werde wie bisher. Dem liegt zweierlei zugrunde. Erstens die Annahme, daß die Welt noch wie vor 20 Jahren sei. Zweitens das Vertrauen auf die eigene Gerissenheit, die türkische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß der Türkei Unrecht zugefügt werde. Aufgrund dieser in Regierungskreisen vorherrschenden Haltung wird die Türkei allmählich aus Europa hinausgedrängt. Dieselben Politiker und Führer versuchen, die Schuld daran auf Europa abzuwälzen.

Gleichzeitig geht das türkische System seine auswärtigen Probleme mit Schärfe und Verbissenheit an, seine inneren Probleme mit Druck und Gewalt. Das türkische System beharrt darauf, das Kurdenproblem als ein Problem der inneren Sicherheit abzutun und die multikulturelle wie pluralistische Struktur der Türkei hartnäckig zu leugnen. So werden sogar die wohlwollendsten Kritiker in dieser Angelegenheit – je nach Bedürfnis – entweder erhört oder aber öffentlich zu Verrätern erklärt; fest steht jedoch, daß man sich mit allen Mitteln sträubt, auch nur den kleinsten konkreten Schritt zu unternehmen. Das türkische System ist nämlich fest entschlossen, sich den gemeinsamen Werten der modernen Zivilisation zu verweigern und nicht zu bemerken, daß die Zukunft der Türkei dadurch getrübt wird.

Daß dieses politische Vorgehen die Türkei von der internationalen Gemeinschaft isoliert, wird indessen nicht wahrgenommen. Es wird übersehen, daß die vorgeschobenen Beweggründe für dieses Vorgehen von der westlichen Öffentlichkeit nicht akzeptiert werden. Es wird nicht einmal bemerkt, daß das öffentliche Interesse an der Türkei rückläufig ist. Die Weltöffentlichkeit hat es weder interessiert, daß in der Haftanstalt von Diyarbakir zehn Insassen von Sicherheitsbeamten mit Eisenstangen zu Tode geprügelt, noch daß vier Lehrer von der PKK ermordet wurden. Die Türkei wird mittlerweile nur noch unter stammesgeschichtlichen Gesichtspunkten gehandelt!

Unter den Unterzeichnern des Aufrufs befinden sich einige, welche die Aufnahme der Türkei in die Zollunion als einen ersten Schritt auf dem Weg zur Europäischen Union begrüßt haben; andere wiederum waren aufgrund der politischen Haltung des türkischen Staates und seiner Regierung dagegen. Uns allen ist es jedoch unmöglich, unter diesen Umständen den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union zu fordern. Unserer Ansicht nach muß die Türkei erst einmal einen Wandel durchlaufen, ehe sie der Europäischen Union beitreten kann. Dies ist in erster Linie Aufgabe der Türkei beziehungsweise der türkischen Führung. Diese Bemühungen sollen nicht diplomatischer Natur sein. Denn die voreilige Zurschaustellung diplomatischer Anstrengungen ist uns peinlich.

Die Türkei muß sich um eine Antwort auf folgende Fragen bemühen:

Ist die Türkei bereit, die Werte der modernen Zivilisation zu übernehmen und in diesem Sinne wirklich gewillt, europäisch zu werden? Ist man sich darüber im klaren, daß es keinen anderen Ausweg mehr gibt, als in der Türkei grundlegende Änderungen vorzunehmen?

Aus diesem Grunde ist es dringend erforderlich, daß der türkische Staat, die türkische Regierung, die Politiker und Teile der Öffentlichkeit von ihrer bisherigen Haltung ablassen. Es ist unser Anliegen, der türkischen Öffentlichkeit mitzuteilen, daß die Möglichkeiten der Haltung „Wir wollen so bleiben, wie wir sind, und zugleich Europäer werden“ erschöpft sind. Die Türkei wird sich entweder Europas Auffassung von Menschenrechten, Grundfreiheiten und Demokratie zu eigen machen müssen und Europa beitreten oder aber weit zurückbleiben. Die Türkei steht am Scheideweg!

Dieser Aufruf wurde von 43 deutsch-türkischen Intellektuellen unterzeichnet. ErstunterzeichnerInnen sind u.a.:

Prof. Dr. Faruk Șen, Leiter des Zentrums für Türkeistudien; Cem Özdemir, MdB ; Dr. Alper Öktem, Radiologe; Ömer Polat, Schriftsteller; Deniz Incediken, Deutsche Welle; Hüseyin Șenol, Journalist/Verleger; Muhsin Omurca, Kabarettist/Karikaturist; Dr. Hidir Eren Çelik, Sozialwissenschaftler/Schriftsteller; Metin Fakioglu, Hessischer Rundfunk; Necati Șahin, Regisseur Arkadaș Theater; Ali Duran Gülçiçek, Vorsitzender der Föderation der Alevitischen Gemeinden in Europa e.V.; Nedim Hazar, Journalist und Musiker; Cemal Demirer, SFB-Multikulti; Erman Okay, Schauspieler; Dr. Serol Teber, Psychologe; Ozan Ceyhun, Bündnis 90/Die Grünen; Kenan Küçük, Sozialpädagoge; Yildirim Denizli, Maler; Ismail Çoban, Maler und Graphiker; Nafiz Özbek, IG- Metall-Vorstandsmitglied; Habib Bektaș; Nevin Karahasan; Aydin Karahasan; Hașmet Atasoy, Güven Pamir; Dr. M. Cüneyd Sözlüer; Mehmet Erdogan; Pakize Erdogan.