Weniger Lehrer – mehr Schüler

An Niedersachsens Schulen kann der Unterricht nur noch mit einem Notprogramm gesichert werden. Lehrerstellen werden gestrichen, die Zahl der Schüler in den Klassen steigt  ■ Aus Hannover Jürgen Voges

Seit Jahren übt sich Rolf Wernstedt im Sparen. Der niedersächsische Kultusminister teilt sein Schicksal mit all seinen Ministerkollegen. Doch sie bewegen sich im Kreis. Die Zahl der Schüler klettert weiter nach oben: Verglichen mit dem Tiefststand im Jahre 1989 sind heute etwa in Niedersachsen 17 Prozent Schüler mehr zu unterrichten. Wenn der „Schülerberg“ in den Jahren 2003 bis 2005 in den alten Bundesländern seinen Gipfel erreicht, werden im gesamten Westen noch einmal rund eine Million oder zehn Prozent mehr Kinder als jetzt die Schulbank drücken.

Für Niedersachsen hat Wernstedt deswegen ein bis zum Jahre 2003 reichendes „Gesamtkonzept zur Unterrichtssicherung“ vorgelegt. Das liest sich wie ein Notprogramm: Während die Sozialdemokraten in Bonn von Bildungsoffensive und Überstundenabbau reden, will der SPD-Kultusminister die Schulklassen vergrößern, die Lehrer zu weiterer Mehrarbeit verpflichten und nebenbei noch 1.200 Lehrerstellen abbauen.

Aus den neuen Bundesländern will Wernstedt nur 150 Pädagogen vorübergehend nach Niedersachsen holen. Dabei wäre dieser Lehrertransfer durchaus in größerem Umfang sinnvoll. Schließlich führte in der DDR das Jahr 1989 auch zu einer drastischen Geburtenwende, die jetzt an den Schulen Wirkung zeigt. Anders als im Westen wird im Osten in den nächsten zehn Jahren die Schülerzahl drastisch sinken – von jetzt rund 3 auf 1,7 Millionen.

Die langfristige Notplanung des niedersächsischen Kultusministers stopft jedoch nur mehr Schüler in die Klassen. An den Grundschulen, Gesamtschulen und Orientierungsstufen des Landes wird die höchstzulässige Klassenstärke ab dem übernächsten Schuljahr von jetzt 28 auf 31 Schüler heraufgesetzt, an den Realschulen und den Gymnasien sogar von 30 auf 33 Schüler. Von den größeren Klassen verschont bleibt nur jenes gute Viertel der Schüler, das Haupt- oder Sonderschulen oder die gymnasiale Oberstufe besucht, in der ohnehin nicht in Klassenverbänden, sondern im Kurssystem unterrichtet wird. Die größere Klassenstärke rechtfertigt der SPD-Mann Wernstedt mit dem Hinweis auf die Verhältnisse „in anderen, finanzstärkeren Flächenländern“. Gemeint sind damit die Unionsländer Bayern und Baden-Württemberg. Dort sind Klassen mit bis zu 33 Schülern durchaus erlaubt.

Um die Lehrer zu Mehrarbeit zu bewegen, schöpft das Notprogramm alle Möglichkeiten des Beamtenrechts aus. Es will den Lehrern unter dem Stichwort „Präsenzpflicht“ und „im Rahmen der 40-Stunden-Woche“, auf die in Niedersachsen für alle Beamten die Arbeitszeit erhöht wurde, Bereitschaftszeiten oder -tage verordnen. An diesen Tagen müssen sie durchgängig in der Schule anwesend sein und für Vertretung erkrankter Kollegen zur Verfügung stehen. Die drei Schulstunden „vergütungsfreie Mehrarbeit“ pro Monat, die nach dem Beamtenrecht möglich sind, will Wernstedt dabei „konsequent nutzen“. Weitere Unterrichtsausfälle sollen durch die Einführung vergüteteter Mehrarbeit ausgeglichen werden.

Um verläßliche Schulzeiten für Eltern und Kinder sicherzustellen, sollen Fortbildungen, Betriebsausflüge und Kuraufenthalte von Lehren künftig grundsätzlich in den Ferien stattfinden. Denn nach dem Beamtenrecht haben die Lehrer keinen größeren Urlaubsanspruch als andere Beamte. Die Ferien sind rechtlich nur unterrichtsfreie Zeit.

Zunächst auf freiwilliger Basis will Niedersachsen darüber hinaus Lebensarbeitszeitkonten für Lehrer einführen. Jüngere Lehrer können dann in den nächsten zehn Jahren, wenn die Schülerzahlen noch hoch sind, durchgängig ein oder zwei Wochenstunden mehr unterrichten. Diese auf dem Arbeitszeitkonto gutgeschriebene Mehrarbeit sollen sie in den Jahren sinkender Schülerzahlen dann wieder abbummeln. Die Juristen im Kultusministerium sehen bisher keine rechtliche Möglichkeit, diese Lebensarbeitszeitkonten verpflichtend einzuführen. Falls allerdings der Bund das Beamtenrecht entsprechend ändere, werde man den jungen Lehrern das Vorarbeiten fürs Alter auch verordnen, sagte auf Anfrage der Sprecher des niedersächsischen Kultusministeriums. Im Gegenzug soll schon ab dem kommenden Schuljahr die bisherige Lehreraltersermäßigung von zwei Wochenstunden größtenteils verändert werden: Statt ab dem 55. Lebensjahr soll es diese Ermäßigung erst ab dem 58. Lebensjahr geben.

Das ganze Unterrichtssicherungsprogramm möchte Rolf Wernstedt am liebsten „im Konsens mit allen beteiligten gesellschaftlichen Gruppen“, auch mit den Lehrerverbänden, umsetzen. Vor einem Dialog mit dem Minister sollen die Verbände allerdings die „eingeschränkte finanzielle Leistungsfähigkeit des Landes akzeptieren“. Die GEW hat angesichts dieser Vorbedingung schon abgewunken und droht erneut mit Protestaktionen. „In seinem Dialog würde uns der Minister doch nur wieder verkünden, daß sich seit 1989 die Weltlage und Landesfinanzen gleichermaßen verändert haben“, sagt GEW-Landesgeschäftsführer Richard Lauenstein. Für die GEW fördert das Notprogramm die Selektion und die Privatisierung von Bildung. „Leidtragende sind die Schüler, vor allem die schwächeren, die in größeren Klassen nicht mehr gefördert werden können“, sagt Lauenstein.

Der Kultusminister hält sich immerhin zugute, daß neben Niedersachsen bisher nur Nordrhein- Westfalen ein bis zum Schülergipfel im Jahr 2003 reichendes Unterrichtsicherungsprogramm vorgelegt hat. Das Programm des Nachbarlandes kommt allerdings ohne die zehnprozentige Vergrößerung des Schulklassen aus. Es will vorübergehend 1.000 Lehrerstellen zusätzlich einrichten. Rechtliche Bedenken gegen ein verpflichtendes Lebensarbeitszeitkonto kennt man in NRW nicht. Dort müssen demnächst sechs Jahre lang alle Lehrer im Alter zwischen 30 und 49 Jahren eine Stunde mehr unterrichten, die auf dem Konto gutgeschrieben wird.

Trotz Notprogramm will Niedersachsen auch 1997 und 1998 noch einmal 1.400 der im Schuldienst freiwerdenden Stellen streichen. Seit 1995 besetzt das Land ohnehin nur noch jede zweite freiwerdende Stelle mit einem jungen Pädagogen. Die GEW nennt Wernstedts Probleme mit der Unterrichtsversorgung „hausgemacht“. Der Kultusminister selbst erwartet allerdings, daß andere westliche Bundesländer in den kommenden Jahren ähnlich einschneidende Programme vorlegen.