Wenn die Sinne täuschen

■ Im Auftrag des Gerhard-Marcks-Hauses werden Bildhauer zu „Papiertigern“ und erschaffen sich die Welt aus Zellulose

Die Idee ist interessant, die Ausstellung, die derzeit im Gerhard Marcks-Haus gezeigt wird, auch: „Bildhauer arbeiten in Papier“ heißt sie und zeigt Arbeiten von international renommierten KünstlerInnen, die aufgefordert wurden, eigens für das Ausstellungsgebäude Werke zu konzipieren. Was bei einer solchen Arbeit vor allem herauskommt, ist eine Renaissance der Imitation. Renaissance im wahrsten Sinne des Wortes, denn so, wie es das erklärte Ziel jener Epoche war, die Realität nach den neu entdeckten Gesetzen der Perspektive möglichst genau nachzubilden, ist es in dieser Ausstellung eine übereinstimmende Intention der KünstlerInnen, mit dem Material Papier möglichst täuschende Imitationen anderer Materialien zu schaffen.

So etwa Ziva Krozon: Ihre Installation „Personal Shelters“ wirkt wie ein Ensemble aus verrostetem, verkohltem und verbogenem Metall. Kaum zu glauben, daß die getürmten, wie zu einer grotesken Stadt in Miniaturform vereinten Gebilde wirklich aus Papier sind.

Ganz ähnlich Thomas Virnich: Im ersten Raum der Ausstellung hat er eine Ecke mit Bruchstücken und Trümmern von antiken Säulen drapiert, die so sehr nach Fragmenten aus Granit aussehen, daß man sich dem Berühren kaum entziehen kann.

Das Zauberwort hier, wie auch bei Ziva Krozon: Abformung. Diese Technik der naturgetreuen Abnahme von Strukturen mit dem Material Papier nämlich scheint den ausstellenden KünstlerInnen ebenso Credo zu sein, wie es einst die naturgetreue Abbildung für die Künstler der Renaissance war.

Solches gilt auch für Andreas von Weizsäcker, der im Gerhard-Marcks-Haus vier große, von Rissen und Hohlräumen durchzogene Löwenköpfe präsentiert, die er ebenfalls als Abformungen, und zwar von den Bronzelöwen des Münchener Siegestores, gestaltet hat. Freilich sind seine Skulpturen weniger konsequent hinsichtlich der Imitation (die sie gleichwohl nicht vermeiden), was sie in einem wenig aussagekräftigen, halbherzigen Schwebezustand beläßt.

Überzeugender zeigt sich da schon Timm Ulrichs, der sich dem imitativen „Ausstellungskonsens“ gänzlich verweigert und stattdessen Papier als Papier präsentiert, und das gleich zweifach: Erstens zeigt er Fotopapier, zweitens bildet er darauf ebenfalls Papier (bzw. Pappe) ab. Anders als seine MitstreiterInnen, behandelt Timm Ulrichs das Material Papier schlicht als ein Medium der Information, mit dem dieser ausgesprochene „Kopfkünstler“ seinem Publikum einen gesellschaftlich relevanten Spiegel vorhält. Eine Irritation das, bis man in einem Aha-Erlebnis das scheinbar Beiläufige als Skandal des Alltags erkennt.

Im krassesten Gegensatz zu diesem sozialkritisch motivierten Konzeptansatz stehen die sieben „Gerüste“ von Dorothea Reese-Heim. Turmähnliche Gebilde aus Papier, umhüllt von säulenartigen Metallgittern, präsentiert sich ihre Rauminstallation als Faszination der reinen Ästhetik, die statt eindeutiger Interpretation vielfältige Assoziationen freisetzt.

Moritz Wecker

„Bildhauer arbeiten in Papier“ im Gerhard-Marcks-Haus bis 6. April. Katalog: 38,- Mark