: Freizügig mit Unsinn gewürzt
■ Ein Wissenschafts-Fake erschüttert die akademische Gemeinde Amerikas
Mit transatlantischer Verzögerung ist nun endlich ein Skandal bei uns eingelaufen, der bereits vor einigen Monaten die akademische Welt Nordamerikas, und inzwischen auch Englands und Lateinamerikas (!?), erschütterte. Alan Sokal, mathematischer Physiker an der New Yorker Universität, hatte der kulturwissenschaftlichen Zeitschrift Social Text unverlangt einen Artikel gesandt, in dem er gravitätisch gewisse aktuelle Probleme physikalischer und mathematischer Theorien behandelte. Wer auch nur wenige Sätze aus diesem Traktat liest, merkt, daß er gespickt ist mit ironisierten Zirkelschlüssen, Halbwahrheiten und splitternacktem Blödsinn – aber unverdrossen druckten ihn die Herausgeber von Social Text in ihrem Frühjahrsheft ab. Im Gegensatz zu den Hitler-Tagebüchern oder den pseudo-keltischen Ossian-Gesängen ließ hier der Autor seinen Schwindel selbst auffliegen: Wenige Wochen nach der Publikation seines Traktats mit dem Titel „Transgressing the Boundaries: Toward a transformation hermeneutics of quantum gravity“ (etwa: Grenzüberschreitung – Wege zu einer transformativen Hermeneutik der Quantenschwerkraft) erklärte Sokal im Sommerheft der Zeitschrift Lingua Franca, er habe seinen Text „freizügig mit Unsinn gewürzt“, habe lediglich aufgeschrieben, was gut aussieht und den Herausgebern von Social Text wohl in den ideologischen Kram passen könnte.
Gut ausgesehen haben muß es wohl: Sokal schaufelt sich zu Beginn seines Aufsatzes den Weg frei, indem er die klassische Wissenschaft in hemdsärmeligem Ton der Lächerlichkeit preisgibt. Immer noch seien sie dem Dogma der Postaufklärung verfallen, es gäbe eine Außenwelt, die unabhängig vom Betrachter existiere, und man könne sie erforschen, wenn man sich nur der „sogenannten objektiven“ Methoden bediene. Der Knüller aber für die Herausgeber muß Sokals Versprechen gewesen sein, es gäbe aktuelle theoretische Überlegungen zur Quantenschwerkraft, die sich ohne weiteres für ein großangelegtes Befreiungsmanöver nutzbar machen ließen: „Inhalt und Methodik postmoderner Wissenschaft können dem fortschrittlichen politischen Projekt starken intellektuellen Rückhalt bieten: die Überschreitung aller Grenzen, die Beseitigung aller Hindernisse, die radikale Demokratisierung aller Bereiche des sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Lebens.“ Sokal schwingt sich zu deliranten Höhen auf, in denen es um den Nutzen des „Zermelo-Fraenkel-Axioms für den Feminismus“, die Ähnlichkeit zwischen der Quantentheorie und Lacans „neurotischem Subjekt“ oder der Behauptung, das Zeichen für Pi von Euklid, das früher als konstant und universal galt, werde jetzt in seiner unvermeidlichen Geschichtlichkeit gesehen.
Der Merkur hat nun einen Kommentar des Physik-Nobelpreisträgers Steven Weinberg nachgedruckt (ursprünglich New York Review of Books), in dem die Brisanz des Falles zutage tritt. Obwohl sich das Ganze nämlich wie ein David-Lodge-Roman liest (einer der Beteiligten soll auch die Vorlage der Romanfigur Morris Zapp gewesen sein), hat Sokal ein dringendes Anliegen: Ihm graust es vor der Vorstellung, der Konstruktivismus der Postmoderne – daß alle Realitätsbeschreibung perspektivisch, interessegeleitet und relativ ist – könne künftig akademische Standards prägen. Zugelassen wäre dann letztlich nur noch Meinung, und zwar voraussichtlich die aktuell mehrheitsfähige. Auch Weinberg, der Sokals Experiment insgesamt für gelungen und an der rechten Zeit hielt, will nichts von „Publikumstheorien“ der Wahrheit wissen, wie sie beispielsweise der amerikanische Philosoph Richard Rorty verteidigt, für den es „keine Wahrheit ohne Konsens“ gibt. Obwohl, so Weinberg, Zahnpasta real ist, die physikalischen Gesetze real sind, die Baseballregeln und die Steine auf dem Land real sind, so sind doch „die Gesetze der Physik in dem selben Sinn real wie Steine auf dem Land und nicht wie die Baseballregeln“. Weinberg räumt zwar ein, daß physikalische Gesetze in einer Sprache geschrieben sind, die ihre sozialen und historischen Hintergründe nicht abschütteln kann, aber das ändert nichts: „Sollten wir je intelligente Lebewesen auf irgendeinem anderen Planeten entdecken und ihre wissenschaftlichen Arbeiten übersetzen können, werden wir gewahr werden, daß sie und wir dieselben Gesetze entdeckt haben.“ Für Weinberg ändert es auch nichts, daß es kaum ein universell und genau geltendes physikalisches Gesetz gibt, denn „manche davon haben sich zu einer letztgültigen Form verfestigt, die unter bestimmten Umständen Gültigkeit hat“, und das seit hundert Jahren; und es ist damit zu rechnen, daß man weitere hundert Jahre mit ihnen wird auskommen müssen.
Das Problem hinter Sokals Streich scheint eher zu sein, daß es ausgerechnet an den Universitäten ein wachsendes Bedürfnis nach der ganzheitlichen Theoriedecke gibt, die sich warm und wohlig über die vielen auseinanderstrebenden Gesellschaftsteile breitet; die das soziale Leben ebenso beschreibt wie die Steine auf dem Land oder die Baseballregeln. Daß die Naturwissenschaftler gedrängt werden sollen, Gesetze zu entdecken, die „proletarischer, weiblicher, amerikanischer, religiöser oder arischer“ sind, findet nicht nur Steven Weinberg gefährlich. Bislang haben sich allein zwanzig Colloquien mit dem Fall befaßt. Weitere werden folgen. Mariam Niroumand
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