■ Schlagloch
: Warum ich einmal DKP gewählt habe Von Friedrich Küppersbusch

Die andere ältere Dame aus unserer Nachbarschaft, die kleine altersgebeugte mit der schmutziglila Strickmütze und dem fremden – heute vermute ich: ostpreußischen – Akzent, war bei den Zeugen Jehovas. Die eine dagegen, die etwas weiter die Straße hinunter wohnte und immer einen hüfthohen Plakatständer im Vorgarten stehen hatte, war bei „so 'nem ähnlichen Verein“, erklärte mir meine Mutter. Jedenfalls seien beide kein Grund zur Besorgnis und höflich zu grüßen, trotzdem.

Gelegentlich schlurfte die greise Strickmütze über den Splitt auf unseren Hof und sprach mit meinem Vater. Der scheuchte erst den nervend übereifrig anschlagenden Hund in seine Hütte und ließ sich dann mit seinem wortlosen Charme auf die zwei Köpfe kleinere graue Erscheinung ein. Ihr Missionseifer war ein in sich gekehrter. Mehr zu sich selbst und für uns unbelauschbar, schien sie offenkundig bedrückende Dinge zu sagen. Dann wurde sie herzlich verabschiedet und erneut vom Hund verbellt. Mein Vater wartete einen höflichen Moment, bis sie außer Sichtweite war und beantwortete dann Mutters fragenden Blick mit einem beruhigenden Schulterhochziehen, Händeöffnen und „Wie immer: Nächste Woche geht die Welt unter“.

Die mit dem Plakat im Vorgarten besuchte uns gar nicht. Ihre Haare waren graugrau, und sie ging viel aufrechter, im beigen Trenchcoat, mit einer braunen Ledereinkaufstasche, die Straße mal rauf, mal runter zum Einkaufen und zurück. Ob sie sich in Schwätzchen nicht verwickeln ließ oder nicht verwickelt wurde, war mir nicht klar.

Jedenfalls hatte ich es so verstanden, daß sie ungefähr in der gleichen Liga spielte wie die Sektenschwester. Nach ein paar ereignislos verstrichenen Weltuntergangsdaten hatte ich die heitere Note in meines Vaters Einlassung erfaßt und folgerte, daß bei der Plakatfrau ähnlich viel zu lachen sei. Meine diesbezüglichen Versuche aber wurden verhältnismäßig humorlos unterbunden. Das mit dem Plakat habe sie von ihrem Mann, der sei jetzt schon lange tot, und deshalb mache man darüber keine Witze. Ich kam dann auch in die Schule und konnte unterwegs entziffern, was auf dem Plakat immer draufstand: „Wählt DKP!“

Das stand da nun vor jeder Wahl. Dieses Schild gehörte zum Inventar, so wie ein Haus weiter der gewienerte Opel Rekord oder zwei Häuser weiter die kleine Neonwanne mit dem Hinweis auf die in jenem Hause fachkundig ausgeführten Fußpflegearbeiten. Trotzdem hatte es nicht nur Anheimelndes an sich.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Spur Angst vor dieser Frau daher kam, daß dann allen alles gehöre, wenn die drankommen, und man dann gar nicht mehr wisse, wo man dran sei. Denn so wurden mir die Grundzüge des Marxismus-Leninismus erläutert. Oder ob es eben doch mit diesem toten Mann zu tun hatte: tot, Kommunist, lange her, keine Witze: komisch. Immerhin ein Bein ab hatte der kriegsversehrte alte Mann, Herr Kocherberg, der vier Häuser neben uns wohnte.

An einer Puppe meiner älteren Schwester hatte ich, nicht aus besonders gemeinen Gründen, eine saubere Oberschenkelamputation vorgenommen. Der Anekdotenschatz der Familie will es, daß der Kriegsveteran von mir gelegentlich eines Blicks über unseren Gartenzaun darüber informiert wurde, daß wir jetzt eine Herr-Kocherberg-Puppe hätten. Darauf soll ich die Krücke ins Kreuz bekommen und somit die bilateralen Beziehungen auf unserer Straße vorübergehend ziemlich belastet haben. Trotzdem durfte über diese Begebenheit herzlich gelacht werden, über die DKP-Frau nicht, und das paßte dazu, daß es eines Tages eigentlich eher erleichtert hieß: „Ihr Sohn erbt das Haus. Und der hat damit nix zu tun.“

Das war sehr viel später, ich war schon 17, und nun war die alte DKP-Frau also tot. Bis dahin hatte die Velberter Zeitung bei jeder Kommunal-, Landtags-, Europa- und Bundestagswahl für das Wahllokal „Am Berg“ eine Extraspalte „DKP“ einspiegeln müssen. Da stand dann: Null Prozent, eine Stimme. Das würde in Zukunft dort nicht mehr stehen, die Zeitung würde im Grunde die ganze DKP-Spalte weglassen können. Für mich als Erstwähler tat sich damit eine Chance auf, nicht irgendwo in den paar hundert SPD- oder noch fünfzig mehr CDU- Stimmen zu verschwinden, sondern richtig was zu bewegen mit meiner ersten Erststimme.

Meine stärkste Annäherung an den Kommunismus an sich hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon überschritten. In den Wahlkampf um das Amt des Schülersprechers am Gymnasium Poststraße hatte sich ein paar Jahre zuvor mit horrenden Flugblattauflagen der Kommunistische Bund Westdeutschland, KBW, eingeschaltet. Es hatte etwas Unfaßliches, daß unter einer V.i.S.d.P.-Adresse im vierhundert Kilometer entfernten Stuttgart die klassengerechte Einschätzung etwa der Frage diskutiert wurde, ob die Schulleitung mit der Schließung der Schülervertretungsteestube einseitig Kapitalinteressen durchgedrückt hätte. Jedenfalls scheiterte der KBW-Kandidat zur Schülersprecherwahl, und das fand ich in Ordnung. Jetzt, mit fast 18, gingen mir seine Freunde erheblich auf die Waffel, weil sie zwar auch Atomkraftwerke ziemlich Scheiße fanden – es sei denn, sie stünden in der DDR, China oder anderen kommunistischen Paradiesen, in denen Radioaktivität nicht weiter gefährlich sei. Auch über die gerechte Atomrakete des Volkes konnten einem die Genossen dermaßen die Ohren zuschwallen, daß man den ganzen Krefelder Appell wieder sehr relativ sah.

Im Studium kam ich dann noch in eine DKPisten-Wohngemeinschaft in Dortmund, die sich ziemlich sicher war, vom Verfassungsschutz abgehört zu werden. Wenn ich den Härtegrad der Spül- und Flurdienstdiskussionen richtig in Erinnerung habe, dürfte sich der Verfassungsschutz nie wieder so gelangweilt haben wie damals. Zum UZ-Pressefest in der Westfalenhalle ging ich mit, da man mir andernfalls eine zweiwöchige Delegation in die DDR angeboten hatte. Und das war's dann, was meine persönlichen Erfahrungen mit dem Kommunismus angeht.

Etwas schaudernd betrachte ich deshalb heute, wenn Wessis wie ich davon so viel mehr verstehen als ich. Als Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust vor zehn Tagen Gregor Gysi beim „Talk im Turm“ in donnerndem Ton und mit wahrhaft beneidenswerter Faktensicherheit seine Stasi-Belege um die Ohren schlug, war das schon eindrucksvoll. Andererseits fragte ich mich, ob Austs kämpferische Angriffslust wirklich dadurch zu erklären ist, daß auch er ein Opfer der DDR war, auch er seinen 911er Porsche auf dem Transit nicht mal ansatzweise ausfahren konnte.

Aus all diesen Gründen also möchte ich der gegenwärtigen Welle von Wörlitzer, Erfurter, Berliner und Dresdner Erklärungen eine weitere hinzufügen. Sie aber soll heißen „Velberter Erklärung“ und geht so: Am Dienstag nach der 1979er Wahl blätterte ich gierig und nicht uneitel die Zeitung auf, suchte und fand die Spalte, die jetzt praktisch verwitwert war, und las: „DKP: Null Prozent – 3 Stimmen.“

Ich werde nicht erfahren, wer die anderen beiden waren.