33 Tage Geisel, eine Stunde als Zeuge

Jan Philipp Reemtsma, Millionär, Mäzen, Philologe und Analytiker der Gewalt, schildert vor Gericht seine fünfwöchige Entführung, und was diese in und mit ihm angerichtet hat  ■ Aus Hamburg Jan Feddersen

Anzeichen hat er vorher keine bemerkt. Nein, sein Haus und das Grundstück im Hamburger Stadtteil Blankenese seien, zumal im Winter, wenn kein Laub an Bäumen und Büschen hängt, immer frei einsehbar gewesen. Jan Philipp Reemtsma hat also nie wirklich damit gerechnet, entführt zu werden. Bis zu dieser Minute hatte er als Wissenschaftler immer oder oft über die verheerenden Wirkungen von Gewalt und Folter gegen Menschen geschrieben. Von nun an würde er selbst spüren müssen, was dieses auch mit ihm anrichten kann.

Vierter Verhandlungstag vor dem Hamburger Landgericht im Prozeß gegen Wolfgang Koszics und Peter Richter, die neben dem flüchtigen Thomas Drach sowie zwei weiteren Personen den vermögenden Hamburger Philologen am 25. März vorigen Jahres aus seinem Haus verschleppt hatten. Im Zeugenstand sitzt nun das Opfer selbst. Er wird nun in etwas mehr als einer Stunde über die 33 Tage „Im Keller“ (so auch der Titel seines Buches über die Gefangenschaft) berichten.

Reemtsma erzählt. Frei und ohne vorbereitetes Manuskript. Er wird zusehends körperlicher, trotzdem kommt das, was er auszusagen hat, druckreif daher. Er sagt, daß er sich am Abend der Entführung gewehrt hat – worüber vor allem die Kidnapper selbst erstaunt gewesen seien. Drei Zähne sind ihm zerstört, zudem sei seine Nase blutig geschlagen worden. Ob die beiden Angeklagten jedoch bei diesem Überfall mit tätig waren, daß könne er nicht sagen. Ihre Staturen sprächen dafür, daß sie nach seinen Beobachtungen nicht seine maskierten Gegner waren. Der Zeuge wird zunehmend eisiger im Ton. Reemtsma scheint innerlich die immer stärkeren Bilder aus den 33 Tagen in sich zu spüren. Sein Gesicht rötet sich, Schweißperlen auf der Stirn. Er gestikuliert, spricht mit den Händen so, als wolle er seine aufwühlenden Erinnerungen austarieren. Und er sagt: „Die Verbrecher“. Dies muß als kühle Zurückweisung der Aussagen der Angeklagten genommen werden. Denn die hatten sich während der letzten Verhandlungstage als Opfer des Entführerchefs Thomas Drach stilisieren wollen. Kein Geräusch ist im Verhandlungssaal zu hören, wenn Reemtsma spricht.

Am Abend seiner Freilassung, nach all der Pein, in einem Verließ angekettet gewesen zu sein, nach der Ungewißheit darüber, ob seine Entführer ihn am Leben lassen, gequält von der Vorstellung, daß seine Frau durch die von den Entführern am Haus zurückgelassene Handgranate umgekommen sein könnte, sagt Reemtsma zum „Engländer“, wie er Thomas Drach nennt, die Entführung sei hoffentlich kein Muster für Nachahmungstäter. Und er sagte, sie sollten es nicht auch noch anderen Leuten antun. Drach soll darauf geantwortet haben: „Sie hatten doch die De-Luxe-Version.“

Nicht ermordet worden zu sein als Vorzugsbehandlung – gegen diesen Zynismus richtet sich Reemtsmas schriftlicher und gestern auch mündlicher Bericht zuallererst. Trotz seiner offensichtlich überspielten, aber nach wie vor vorhandenen Fassungslosigkeit, werden momentweise auch bei ihm Gefühle sichtbar: So als er direkt nach seiner Aussage zur Tat ergänzt, daß für ihn dieser Fall keineswegs abgeheftet ist, wie ein Aktenvorgang in eigener Sache. Reemtsma kann nur mühsam seine Stimme halten, als er hinzufügt: „Das Leben ist jetzt anders. Kein Tag, an dem man das vergißt.“ Alpträume habe er nachts. Die Verschleppung lasse ihn nicht los, auch nicht das zwiespältige Gefühl zwischen Resignation und „permanenter Aufmerksamkeit“ während der knapp sieben Wochen in der Hand seiner Entführer. Seine Muskulatur reagiere anders. In seinem Buch schreibt er, freigelassen und im Wald auf den Weg zum ersten beleuchteten Haus: „Ich mag die Zivilisation sehr.“ (...)