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: Sentimentale Suppenhühner

Das Schönste an meinem Umzug von Mitte zurück nach SO36 ist die erneute Nähe zu dem immer wieder zu witzigen Streichen aufgelegten Kunzelmann sowie der alten Markthalle in der Eisenbahnstraße. Dieses bloße Bau- „Objekt der Geschichte“ registriert die Großwetterlagen so sensibel, als wäre es nicht überdacht.

Als ich das erste Mal dort einkaufte, ging es mit ihr mal wieder bergab: Weil immer mehr Verkaufsfläche unverpachtet blieb, erlaubte man Aldi und drospa, sich eigene Hallen in der Halle zu bauen. Die Wende kam 1986 mit den türkischen Mädels, die einen Billigklamottenstand wagten, und dem türkischen Ehepaar Sahilli, das „Griechische Spezialitäten“ als Unterpächter anbot. Daraufhin wurden auch einige deutsche Kleinhändler mutig: Erst eröffnete der Zeitungshändler ein fröhliches „Video-Inn“, dann nahm der „Schuh- und Schlüsseldienst“ pfiffig Zeitungen in sein Angebot auf. Und in der hintersten Ecke boten bald zwei Alternativkrämer „Biowaren“ an, ein ähnlich gelagerter „Landhandel“ offerierte sodann im Freilauf verlorene Frischeier sowie saure Säfte. Das Herz der Markthalle indes schlug (und schlägt immer noch) beim Kolonialwarenhändler: dem Scherzkeks Herrn Heinrich. Im nachwendischen Metropolenwahn wollte ein Bistrobesitzer München- und Sylt-Flair in die proletarische Eisenbahnstraße puschen und eröffnete eine hellblaue Sekt- und Kaviarbar namens „Normann's“. Das funktionierte bei all den Kreuzberger Edelarbeitslosen, die plötzlich massenhaft Umschulungslehrerstellen im Osten angeboten bekamen, auch eine Weile. Der richtige Markthallenboom kam allerdings erst mit der wieder zunehmenden Verelendung des „Problembezirks“, wie Kiez-Karrierist Strieder diese arg abgelebte Atopie einmal nannte. In der geographischen Mitte der Markthalle betreibt nach wie vor eine ehemalige DeTeWe-Arbeiterin ihre Kaffeetheke. Dort macht jeder eine Pause, neuerdings gern mit Handy am Ohr: „Ick steh' hier bei Elke und unterhalte mir!“

Neuerdings gibt es aber auch noch das Hallenlokal „Linie 36“, und draußen hat Multigastronom Dimitrij – früher „Fischbüro“, dann „Tresor“ und „Goldener Hahn“ – auch noch das Restaurant „Markthalle“ kunstfrisiert übernommen. Zur akustischen Pein des obendrüber wohnenden Hubert – eines der ganz wenigen professionellen Kunstrezipienten dieser Stadt: Allein im „Jahr des Elends“ (Bert Papenfuß) 1996 besuchte er über 400 Ausstellungseröffnungen! Herr Sahilli bekam im selben Jahr „Hallenverbot“, und seine so schön lächelnde Ehefrau eröffnete gleich neben Herrn Heinrich einen „Lebensmittel“-Laden. Jeder schaut inzwischen weg, wenn die kleine Oma aus der Muskauer sich wieder irgendwas aus den Ramschkisten von drospa klaubt. Auch die zwei Wachleute haben sich inzwischen gut in die herumstehenden älteren Dauerrumhänger der Markthalle eingefügt. Manchmal trifft man den „Tote Tiere“-Dichter Droste – ganz in einen stillen Disput mit einer noch feuchten Veganerin vertieft: am Lotto- und Tabakstand. Und eine ehemalige Topterroristin umstreift dreimal den neuen Friseur und die kleine türkische Änderungsschneiderei, bevor sie ihre rote Samtjacke zur Reparatur gibt und sich anschließend die (roten) Haare umfrisieren läßt. Nachdem jetzt auch noch ein türkischer Imbiß eröffnet hat, ist die Markthalle eigentlich so komplett wie schon 40 Jahre nicht mehr. Nun ärgert man sich über den Supermarkt und die drospa-Filiale, jedenfalls die Arrangement-Ästheten unter den sentimentalen Suppenhühnern dieses Südost-Soziotops. Helmut Höge

wird fortgesetzt