Plus an Aerodynamik

■ Nach dem Sieg über Ivanisevic mißt sich der runderneuerte Thomas Muster im Melbourner Halbfinale mit Pete Sampras

Melbourne (taz) – Daß die Nummer 5 der Weltrangliste im Halbfinale der australischen Tennismeisterschaften steht, kann man eigentlich nicht als große Überraschung werten. Schon gar nicht, wenn es sich um einen bald 30jährigen Tennisprofi handelt, der seit 1984 die großen Turniere dieser Welt spielt, davon allein im letzten Jahr sieben gewann und für fünf Wochen als Weltranglisten- Erster geführt wurde.

Trotzdem eröffnete der Tip „Thomas Muster“ zu Beginn des ersten Grand-Slam-Turniers des Jahres einmal mehr prächtige Gewinnchancen. Weil kaum jemand an ihn glaubte, versprachen die Wettquoten für 10 Dollar Einsatz immerhin 140 Dollar Gewinn bei Melbournes Buchmachern. Vorausgesetzt, es ist Muster, der am Sonntag nach dem French-Open- Sieg 1995 seinen zweiten Grand- Slam-Pokal stemmen wird.

Es gibt inzwischen Leute, die ihm das zutrauen. „Wenn er das Halbfinale gewinnt, ist das schon so gut wie sicher“, glaubt sein geprügelter Gegner Goran Ivanisevic. Da allerdings trifft Muster am Freitag auf den Weltranglisten-Ersten Pete Sampras, der den Spanier Albert Costa gestern mit Mühe (6:3, 6:7, 6:1, 3:6, 6:2) bezwang.

Ivanisevic, aktuelle Nummer 3 der Weltrangliste, hatte sich zuvor Muster mit einem für ihn frustrierenden 4:6, 2:6 und 3:6 geschlagen geben müssen. „Dieser Typ macht dich wahnsinnig“, gestand Ivanisevic danach, „jedesmal, wenn du dich in der Pause auf deinem Stuhl erholst, steht er schon auf dem Platz und wartet auf dich.“

Thomas Muster ist unbestritten der Ausnahmeathlet unter den Spitzenspielern, von denen so mancher lieber von seinem Talent lebt als von der täglichen Trainingsarbeit. Selbst nach Fünf-Satz- Spielen geht er anschließend noch ins Kraftstudio, um seine Übungen mit Medizinbällen und Springseilen abzuspulen. „Routinearbeit, mehr nicht“, nennt er das kurz. Er spricht nicht gern darüber.

Doch sein „perfektionierter Professionalismus“ äußert sich auch auf dem Platz. „Wie ein Geschäftsmann“ nutze er seine Möglichkeiten, zu punkten, belehrte Karl Meiler, ehemaliger deutscher Davis-Cup-Spieler, seinen Zögling Jens Knippschild nach dessen klarer Drittrunden-Niederlage gegen den Österreicher. Während der junge Deutsche gleich mehrere Breakchancen ungenutzt ließ, bestrafte Muster jede Unkonzentriertheit seines Gegenübers.

Um diese Schwachpunkte in Zukunft noch gewissenhafter aufspüren zu können, hat Musters Trainer Ronald Leitgeb seit Jahresbeginn die Videoanalyse eingeführt, mit deren Hilfe jeder Gegner in seinen Bewegungsabläufen auseinandergenommen wird: „Deshalb wußte Thomas auf die bekannt starken Aufschläge Ivanisevics oft die passende Antwort, weil er aufgrund der ersten Bewegung bereits die Richtung erahnen konnte.“ Der Kroate wunderte sich hinterher nur über die glänzenden Returns des Österreichers.

Im Achtelfinale war es dagegen der Aufschlag Musters, bislang eigentlich als Schwachpunkt des Sandplatzspezialisten bekannt, der Gegner Courier von einer Verlegenheit in die andere stürzte. „Man wird mit den Jahren eben erfahrener und taktisch cleverer“, sagt Muster, der seit kurzem auch sein Racket gewechselt hat und nun wie Michael Chang oder die ebenfalls längenmäßig nicht eben bevorteilten Martina Hingis und Amanda Coetzer auf Long-size-Schläger zurückgreift, die wegen ihrer Verlängerung um einige Zentimeter mehr Tempo beim Auf- und Grundlinienschlag produzieren. Alle vier gelangten ins Halbfinale.

„Es ist halt wie in der Formel 1“, relativiert Musters Trainer Leitgeb, „wenn sich alle immer ähnlicher werden, sorgen eben die kleinen Details für die Entscheidung.“ Tatsächlich scheint es, als habe der schon immer PS-starke Thomas Muster neuerdings irgendwie an Aerodynamik gewonnen. Andreas Leimbach