Gesichter des politischen Frühlings in Belgrad

Alle Demonstrationsrekorde haben sie längst gebrochen. Seit 64 Tagen demonstrieren die Belgrader für die Anerkennung der Kommunalwahlergebnisse, gegen den Diebstahl ihrer Stimmen durch die Sozialistische Partei unter Präsident Slobodan Milošević. Trillerpfeifen und leere Töpfe sind markante und lautstarke Hilfsmittel bei diesem Protest. Seitdem die Miliz den Bürgern den „Spaziergang“ verwehrt hat, übertönen sie jeden Abend um halb acht Uhr mit ihren Lärminstrumenten die Lügen des staatlichen Fernsehns. Die Proteste der Studenten sind gar zur Dauerdemonstration geworden. „Wir bleiben fünf Minuten länger als die Polizei“, lautet ihr Motto. Seit vier Tagen und drei Nächten steht Kordon gegen Kordon in der Belgrader Innenstadt. Wer sind eigentlich die Menschen, die seit mehr als zwei Monaten respektlos und mit sichtbar wachsendem Vergnügen an Miloševićs Stuhl sägen? Albert Link (Text) und Daniel Biskup (Fotos) zeigen uns

Die Zeit zwischen 19.30 Uhr und 20 Uhr hält Boško sich immer frei. Nicht weil er die Hauptnachrichten des staatlichen Fersehen verfolgen möchte, sondern um andere Leute davon abzuhalten. Punkt halb acht beginnt in allen Stadtteilen Belgrads ein ohrenbetäubender Krach aus Tausenden Trillerpfeifen, bis zum Anschlag aufgedrehten Stereoanlagen und grausamen Balkonkonzerten. Lärm gegen Lügen – die Originalität kennt keine Grenzen.

Boško weiß von einem Mann, der seine Trompete an einen Staubsauger angeschlossen hat. Zusammen mit seinen Wohnungsnachbarinnen Sandra und Nataša drischt der 23jährige mit Schraubenzieher, Holzknüppel und Suppenlöffel auf einen Müllcontainer ein. Wüßte man nicht, wo man ist, man hielte das Trio für komplett verrückt. Die ältere Generation im Haus wird zudem mit serbischem Hardrock beschallt. „Pressefreiheit in allen Medien und endlich eine richtige Demokratie“, das erhofft sich der freie Mitarbeiter einer Belgrader Lotteriegesellschaft. Boško tippt die Zahlen von den Spielscheinen in den Computer. Was wünscht er für sich selbst? „Einen besser bezahlten Job.“ 600 bis 700 Dinar, knapp 200 Mark im Monat, blieben ihm zum Leben. Die Schuld sieht Boško allein bei Milošević: „Er hat uns in die Scheiße geritten.“ Die Zwischenfälle vom 24. Dezember, als es zu provozierten Zusammenstößen zwischen Milošević-Anhängern und Gegendemonstranten des Oppositionsbündnisses Zajedno kam, hat Boško als Kriegserklärung des Präsidenten verstanden: „Er ist ein Tyrann. Er verdient das rumänische Ende.“

Wann immer die blonde Englischstudentin und freie Musikjournalistin an den Protesten teilnimmt, trägt sie ein doppelseitig beschriftetes Schild: „Wir hängen alle in der Gosse, aber einige von uns können die Sterne sehen“, steht auf der Vorderseite, ein Zitat von Oscar Wilde. Auf der Rückseite die Frage aller Fragen des englischen Dichters Percy Bysshe Shelley: „Oh wind, if winter comes, can spring be far behind?“ (Oh, Wind, wenn der Winter kommt, ist es dann noch weit bis zum Frühling?) Die 22jährige, London-erfahren, redegewandt und in Studentenkreisen bekannt wie ein bunter Hund, glaubt die Antwort zu kennen: „Nein. Und wenn die Proteste bis April dauern, irgendwann wird ER aufgeben. Wir halten länger durch.“

Eine von Deanas Lieblingsbeschäftigungen ist es, die frechen Sprüche auf den Protestschildern und den Plakaten an der Philosophischen Fakultät zu studieren. Nur einmal schluckt sie, räuspert sich und lacht: „Meine Haare sind gefärbt.“ Auf dem Schild steht: „Das verstehen sogar Blondinen.“

Die neue Stimmung in der Stadt bringt sie regelrecht ins Schwärmen. Erstmals seit sie denken könne, verspüre sie nicht den Wunsch, in einer anderen Stadt zu leben, in Rom, Paris oder London. Illusionen hat sie freilich nicht: Einen Job könne ihr keine Regierung garantieren. Deana denkt an eine Demokratie nach britischem Vorbild. Daß es in Hongkong Menschen geben soll, die die Tage bis zum Ende der britischen Herrschaft zählen, kann sie nicht begreifen: „Sollen sie doch uns kolonisieren. Das wär' mein Traum: Hey, England: Conquer us.“

Die Leute, die er täglich bei den Protesten und Demonstration trifft, sind auch für Marko ein „echter Grund, jeden Morgen aufzustehen“. Nur nicht daran denken, daß jeder Tag ein 24. Dezember werden könnte, daß der erste Tote in Belgrads Straßen nicht der letzte bleiben muß. Marko ist bekennender Pessimist, er teilt nicht die positive Einstellung von Milica, die ihre Zukunft noch immer in Belgrad sieht: „Was bringt dir der beste Abschluß? Acht Jahre lang hat meine Mutter studiert, für nichts. Jetzt sitzt sie zu Hause und hat keine Arbeit.“

Der introvertierte Polnischstudent möchte in einer Gesellschaft leben, „in der die Menschen nach ihrem Wissen, nach ihrer Erziehung beurteilt werden“. Nicht in einer Ellenbogengesellschaft, nicht unter Rambos, Machos und diesen verhaßten Kriegsgewinnlern. Nicht unter „Idioten, die mir über die Füße latschen und sich nicht einmal dafür entschuldigen“, sagt Marko und fügt hinzu: „Und schon gar nicht unter Primitiven, die nicht einmal die Geschichte ihrer Stadt kennen“.

Der 19jährige träumt von einer „kulturellen Blüte“, doch weil er nicht mehr daran glauben kann, will er nach dem Studium so schnell wie möglich ins Ausland. Zehntausende von Studenten haben das Land schon vor ihm verlassen, arbeiten heute in lukrativen Jobs in Kanada, Australien, den USA. Marko weiß, warum: „Du kannst diese Leute hier nicht ändern“, sagt er, „das hier ist der Balkan.“ Und als ob er die Gedanken seiner Zuhörer lesen könnte, fügt er nachdenklich hinzu: „Es klingt vielleicht pessimistisch. Aber glaubt mir: Es ist realistisch.“

Ihre Kindheit in Stuttgart liegt acht Jahre zurück, trotzdem behauptet Sina: „Im tiefsten Inneren fühle ich mich als Deutsche.“ Dorthin möchte die 20jährige Germanistikstudentin „irgendwann“ zurückkehren, um ein besseres Leben zu führen. Im Moment halten sie die langen Schlagen vor der deutschen Botschaft von einer Reise ab. „Auf ein Visum wartest du derzeit mindestens zehn Tage“, sagt sie. Außerdem sei die Aktion „Students against the machine“ (Studenten gegen die Machtmaschinerie) ja noch lange nicht abgeschlossen: „Wir machen weiter, bis Milošević weg ist.“

Weggeputzt haben die Studenten Milošević schon einmal. Am 25. Dezember fegten sie, verkleidet als Putzfrauen und -männer, bewaffnet mit Bürsten und Eimern, den Platz in der Teraziye, an dem 24 Studen zuvor Milošević vor seinen Jubeldemonstranten gesprochen hatte. „Er ist doch kein Tier. Irgendwann wird er einsehen, daß seine Zeit vorüber ist“, sagt Sina, die glaubt, daß „fast alle Kommilitonen meinen Optimismus teilen“. Die Nacht ist jung, ihr Freund Marko ungeduldig, also ziehen die beiden los in Richtung „Industria“, ein Rave-Club, in dem heute DJs aus London ihr Können zeigen wollen. Heiß ist es hier unten, entsprechend leicht bekleidet sind die Mädchen, aber nicht ganz so nackt wie die Studentinnen, die sich vor den Augen verdutzter Polizisten entblößen wollten. TripHop statt Strip-Job – es gibt Momente, da wollen die HeldInnen der Straße einfach mal abschalten.

Sieben Tage die Woche, von sieben Uhr morgens bis spät in die Nacht, steht Mihailo vor dem Hotel Moskva, ganz in der Nähe des Platzes der Republik. Bei Wind und Wetter verkauft er unabhängige Zeitungen wie „Demokratija“ und „Blic“ oder die Wochenmagazine „Vreme“ und „Nin“. „Ich freue mich nicht nur wegen des Umsatzes über die Veränderungen“, sagt Mihailo. Vor drei Jahren ist der Mittvierziger, der in einer staatlichen Firma als Verkehrsexperte angestellt war, in den „vorübergehenden Urlaub“ geschickt worden. Ein Schicksal, das er mit Tausenden Belgradern teilt. Seitdem ist er Zeitungsverkäufer. Damit kann er sich „gerade so“ über Wasser halten. Familie habe er nicht – „Gott sei Dank“.

„Früher“, erzählt er, „haben nur ein paar Intellektuelle bei mir gekauft.“ Heute werde er leicht 100 „Demokratija“ am Tag los. Auch 100 seiner knallbunten Trillerpfeifen bringt er an die Demonstranten. Die kaufe er bei einer privaten Firma für 1,30 das Stück, Wiederverkaufspreis: 2,50. So gesehen könnten die Proteste „ruhig noch eine Weile weitergehen“.

„In New York“, sinniert Milica bei einer späten Tasse Kaffee, „haben es die Leute gut. Da wird niemand dumm angeschaut, nur weil sein Äußeres von der Norm abweicht.“ Die Archäologiestudentin zieht an ihrer Zigarette, macht eine abfällige Handbewegung und seufzt: „Trotzdem werde ich meinen Hochschulabschluß lieber in England als in den USA machen. Ein Großonkel von mir lebt dort. Und der ist auch nicht glücklich.“ Milica gehört zu den wenigen Studenten in Jugoslawien, die sich das leisten können: Ihre Familie lebt vergleichsweise gut, und oft wundert sich die 21jährige, „daß ich Tag für Tag auf die Straße gehe, während diejenigen, denen es richtig beschissen geht, zu Hause bleiben“. Doch ganz so uneigennützig, wie es klingt, ist Milicas Engagement in der Protestbewegung nicht: Erstens ist auch sie nicht mit Lebensstandard, Jobaussichten und Reisemöglichkeiten zufrieden. Zweitens zählt für sie das Gemeinschaftserlebnis auf der Straße genausoviel wie der politische Hintergrund. „Mein Leben war furchtbar langweilig. Jetzt hat es wenigstens einen Sinn.“

„Das Wichtigste ist der Friede“, sagt Mönch Andreas, der im serbisch-orthodoxen Patriarchat arbeitet. Seit sich die Kirche offen auf die Seite der Opposition gestellt hat, staunen er und seine Mitbrüder über die Welle der Sympathie, die ihnen entgegenschlägt. Der 35jährige Geistliche, der in Düsseldorf aufgewachsen ist, glaubt an die „einmalige Chance“, die Jugend wieder für die Kirche zu begeistern: „Wir hätten soviel Platz für die jungen Leute.“ Allerdings fürchtet er, daß sie „vom Dogmatischen erst mal die Schnauze voll haben“. Die Euphorie und den Trubel um die Zajedno-Troika mißbilligt er. Blindes Vertrauen habe zu oft zu Blutvergießen geführt: Oft genug sei er in Bosnien gewesen. Bei der Erinnerung an „Kinder ohne Beine, Kinder ohne Väter, Kinder ohne Beine und Väter“ verfinstert sich seine Miene. Daß die Kirche den Kriegstreibern ihren Segen erteilt hat, verschweigt er. Und wüßten die Studenten, daß das Bild Radovan Karadžićs in der Pforte des Patriarchats hängt, würden sie den kirchlichen Würdenträgern wohl nicht so freundlich zuwinken.