"Und sagten: Anarchie!"

■ Der Schauspieler Ben Becker ist "mit Ulrike Meinhof im Kopf" aufgewachsen. Jetzt singt er vom Sensenmann und hat mit Freunden die Platte zur eigenen Bio aufgenommen. Motto: Zu irgendwas muß dieses exzessive Leben j

taz: Dein erstes Album als Musiker, genauer gesagt: als Sänger, hast du mit Ulrik Spies und Jacki Engelken, zwei Filmmusikern, aufgenommen.

Ben Becker: Das ist korrekt. Die machen die Filmmusik und ich die Kurzgeschichten. Das hat sich so ergeben, es war, als wenn ein DJ unsere Platten zusammengemischt hätte und wir uns im gleichen Mix wiederfinden. Ja, und dann haben wir mit den drei Songs eine CD gepreßt und an die ganzen Major-Firmen verschickt.

Und gleich ein Plattenvertrag. Das ist ja wie im Märchen. Oder doch eher, weil du Ben Becker heißt und prominent bist?

Es haben aber alle anderen Plattenfirmen der Reihe nach dankend abgelehnt, bis auf die eine. Die haben uns nach Hamburg eingeladen und wollten uns sehen. Dann hatten wir in Hamburg ein verklemmtes Gespräch...

Ben Becker und verklemmt, hör mir uff!

Ja, doch, wir wußten ja nicht, wie das geht, so ein Gespräch. Gott sei Dank hatte ich nicht vergessen zu sagen, daß wir auf unserer totalen künstlerischen Freiheit bestehen würden. Fünf Wochen später bekomme ich zu meiner Überraschung einen Anruf, in dem es hieß, wir könnten loslegen.

Aber wenn ihr alle Freiheit der Welt hattet, weshalb sind dann deine Liebeslieder an Ulrike Meinhof nicht mit auf dem Album? Zu „brisant“?

Ach, Quatsch. Ich habe es ja probiert, mußte aber feststellen, daß Ulrike Meinhof kein Lied ist, sondern ein Gedicht.

Ab wann ist Ben Becker eine Person eigentlich ein Gedicht oder Lied wert?

Ich bin mit Ulrike Meinhof im Kopf aufgewachsen. Emotional kann ich nachvollziehen, weshalb jemand zum bewaffneten Kampf aufruft, auch wenn es für mich kein Weg ist. Da ich aber sehr extrem emotional fühle, verstehe ich die Traurigkeit und die Wut, die dahin führt. Das macht mir bestimmte Leute sehr sympathisch.

Die Traurigkeit oder die Wut?

Eher die Traurigkeit. Leider hatte Ulrike Meinhof nicht mehr die Chance, sich zu erklären. Schönheit in Worten zu finden, die erklären, wie sie im nachhinein dachte – das wäre großartig gewesen. Inge Viett hat es gemacht. Vielleicht schreibe ich ja ein Lied an sie.

Sind die Worte wichtiger als die Musik?

Sind sie nicht: Wir betraten dieses Studio, das waren helle, weißgestrichene Räume, und sagten: Anarchie! Es ist alles möglich! Wir sind jetzt im Studio. Wir haben das Scheißteil gebucht für 40 Tage. Also, wir können uns hier in die Küche setzen, Fernsehen gucken und ein Bier trinken. Oder wir können in den Raum nebenan gehen und Musik aufnehmen. Also sind Worte auch nicht wichtiger als Musik.

Eure Tournee führt euch sowohl durch Konzerthallen wie auch Theater. Weshalb nicht nur das eine oder das andere?

Es war Zufall, und für uns als Reisende bedeutet es Abwechslung.

Ist es auch Zufall, daß der Bruder ein halbes Jahr nach der Schwester Meret sein erstes Album veröffentlicht? Oder heißt es im Hause Becker Auge um Auge...

Das ist ja der größte Quatsch. Merets Platte „Noctambule“ ist der Live-Mitschnitt eines Liederabends im Berliner Spiegelzelt. Auf ihrer Platte findet sich nicht ein einziger eigener Song. Auf meiner dagegen...

...Zahn um Zahn...

Schmarren, sag' ich. Meret ist Schauspieler, ich bin Schauspieler, mein Vater ist Schauspieler, meine Mutter ist Schauspieler. Wenn man da anfängt, die Pflaumen einzeln vom Baum zu schütteln, da lachen doch die Hühner!

In jedem einzelnen Stück singst du als Erzähler aus einer anderen Rolle...

Ich würde halt sagen, daß ich viele Facetten habe. Zu irgendwas muß dieses exzessive Leben schließlich gut gewesen sein! Ich gehe so weit zu sagen, daß ich es mir geradezu zur Aufgabe gemacht hatte, soviel wie möglich von mir und meinen unterschiedlichen Seiten in das Album einzubringen. Das ist sehr, sehr ehrlich, und die Geschichten erzählen sehr viel aus meinem Leben. Mit poetischer Lizenz in Worte gefaßt – aber das haben autobiographische Notizen nun einmal so an sich.

Was wäre anders gewesen, wärst du kein Schauspieler?

Ich wäre schon seit zehn Jahren im Rock Business.

In dem Song „Brian Jones“ heißt es: „Ich bin Brian Jones / Brian Jones / Ist wie ich / Ertrunken / Sagt man / Macht nichts.“ Jede Zeile bringt eine neue Wendung in die Geschichte.

So denke ich, und so bin ich. Das ist meine Philosophie. Der einzige Unterschied zwischen mir und anderen Musikern oder Sängern ist, daß ich meine Songs nicht aufschreibe, bevor ich sie singe. Ich setze mir statt dessen die Kopfhörer auf und höre Musik und weiß selber nicht, was da kommen wird. Aber mein Kopf ist auf Hochtouren. Und dann kommt ein Satz. „Hallo“. Ich weiß selber nicht, wie es kommt. Aber das „Hallo“ steht im Raum. (Fängt an zu singen): „Hier spricht Juri Gagarin. Ich rufe an. Von ganz weit weg. Ich grüße die Welt. Und Anna Magnani. Ich glaube, ich komm' nie mehr zurück.“ Dann erst weiß ich, was ich getan habe. Dann sortiere ich die Sätze, schmeiße diejenigen raus, die ich scheiße finde, behalte die, die gut sind. Aufschreiben können das dann andere für mich.

Inwiefern ist deine Musik Resultat einer Szenezugehörigkeit? Stichwort: Berlin; Stichwort: achtziger Jahre.

Wir sind im Berliner Untergrund zu Hause. Das wiederum hat etwas mit einer Lokalität namens „Ex 'n' Pop“ zu tun. Und dieses Lokal wiederum beherbergt eine bestimmte Szene. Und zu Hause ist, wo der Kopf ist.

Berlin hatte auch einmal einen sehr beengten Horizont, der an der Mauer endete. Ist die heute wirklich weg?

Berlin war eine Insel mit Kirmes, auf der du alles machen durftest. Berlin war ein staatlich subventioniertes Theater, eine einzige Disco. Die haben jeden Tag Millionen von Mark in diese Stadt gepumpt, damit sie wie eine Eins mitten im Osten steht. Berlin war ein positives Mekka. Deshalb haben Bowie und Pop ja auch dort gewohnt. Die haben sich da alle wohl gefühlt. Und ich bin sehr froh, daß ich in Berlin aufgewachsen bin, daß ich das miterleben durfte. Vor allem das Ende der siebziger und den Anfang der achtziger Jahre.

In dem Stück „Brian Jones“ fragst du allerdings: „Wo seid ihr hin / sechziger Jahre?“

Das bezieht sich auf meine Kindheit. Heute kocht mir niemand mehr Milchreis mit Zucker und Zimt. Das ist natürlich eine Trauer, die ich in dem Stück versuche zum Tragen zu bringen. Die Parallele zu heute ist, daß ich jetzt in dem Alter bin, in dem Brian Jones seierzeit verstorben, ertrunken, sagt man, macht nichts, ist. Die Stadt ist dann irgendwann aufgerissen, zu Beginn der neunziger Jahre. Also zog ich zurück in diese Stadt, nachdem ich lange Zeit in Stuttgart und Hamburg gelebt hatte, um mir das anzuschauen. Zum ersten Mal in meiner Generation hatte ich so die Chance, Geschichte mitzuerleben – und zwar einfach, indem ich über die Straße zum Gemüsehändler ging, Zucchini kaufen. Und dann ging ich eines Abends pissen. Im richtigen Lokal, zur richtigen Zeit und traf beim Pinkeln Klaus-Michael Gruber. Zwei Tage später bekam ich eine Rolle in „Splendid“ an der Berliner Schaubühne. Also blieb ich, obwohl ich die Schaubühne aus meinen Zeiten als Bühnenarbeiter noch in schlechter Erinnerung hatte.

Du bist in eine Stadt zurückgegangen, die in den neunziger Jahren Techno hervorgebracht hat – die erste gesamtdeutsche Jugendbewegung.

Ich bin nur hin und wieder in den Backstage-Katakomben des E-Werks und bekomme Techno an seiner Geburtsstätte aus den Garderoben mit. Finde ich witziger so.

Deine Musik orientiert sich dagegen an der Expressivität des Augenblicks. Für viele ist das kalter West-Kaffee.

Ist mir doch egal. Ich habe in Berlin erst einmal „Sid And Nancy“ aufgeführt. Ich hatte beim ZDF unterschrieben, habe „Boulevard“ gedreht, auf speziellen Wunsch von Harald Juhnke, und das Geld, das ich da nach Steuern verdient hatte, habe ich in „Sid And Nancy“ gestopft.

Mit deiner Schwester Meret in der Hauptrolle, mit Musik von Alexander Hacke von den Neubauten, in einer Szene-Kneipe namens „Ex 'n' Pop“: Wird da nicht zu den Konvertierten gepredigt?

Das glaube ich schon einmal gar nicht, dazu haben wir das Stück ja zu sehr an die große Glocke gehängt. Nur weil es Inseln in dieser Stadt gibt und das „Ex 'n' Pop“ eine dieser Inseln ist, muß man ja nicht darauf herumhacken. Was spricht im übrigen gegen Freunde und Familie? Manchmal habe ich den Eindruck, das „Ex 'n' Pop“ ist wie Andy Warhols Factory, ein Zirkel von Leuten, berühmt, weniger berühmt, traurig, weniger traurig, die versuchen zusammenzukommen zu einem Endkunstwerk.

Ist deine Musik so eine Endkunst?

Sagen wir mal so: Ich empfinde es vor allem als Kunst, daß diese Platte bei einer riesigen Plattenfirma erschienen ist, daß ich sie bei Thomas Gottschalks House Party vorstellen und daß ich in der Harald Schmidt Show auftreten werde. Die RAF hat sich ja auch an die großen Medien gewendet. Interview: Maximilian Dax