: Chronologie einer tödlichen Flucht
Am ersten Weihnachtsfeiertag ertranken vor der Küste von Malta 290 Flüchtlinge. Einer von ihnen war Jeyakanthan S. aus Sri Lanka. Der fast 18jährige wollte zu seiner Familie in München ■ Von Vera Gaserow
Berlin (taz) – Jeyakanthan S. aus Sri Lanka wäre achtzehn Jahre alt geworden. Heute vor fünf Tagen. Er wollte seinen Geburtstag in München feiern, bei seinem Vater und seinen beiden Brüdern. Doch der junge Mann kam nie in Deutschland an. Er ertrank am ersten Weihnachtsfeiertag, eingeschlossen in einem sinkenden Fischkutter vor der Insel Malta.
Jeyakanthan S. hat eine Flüchtlingstragödie vor der europäischen Haustür nicht überlebt: Während Europa Weihnachten feierte, ertranken 290 Flüchtlinge aus Indien, Pakistan und Sri Lanka bei ihrem Versuch, ans Festland zu gelangen. Den Zeitungen war die Katastrophe nur eine Kurzmeldung wert.
Wie sich das Drama auf dem Mittelmeer abgespielte, hat „Pro Asyl“ anhand der Aussagen von Überlebenden versucht zu rekonstruieren: Aus Häfen in Ägypten, Syrien und der Türkei liefen zunächst drei Schiffe mit 465 Flüchtlingen aus. Auf hoher See luden die Frachter ihre „Ware“ um auf die unter honduranischer Flagge fahrende „Yioham“. Von dort aus sollten die Flüchtlinge in einen Fischkutter umsteigen — dabei kam es zur Katastrophe. In der bewegten See rammte die „Yioham“ das kleinere Boot und versenkte es. 175 Flüchtlinge konnten sich retten. Für 290 kam jede Hilfe zu spät. Sie waren unter Deck eingeschlossen in Fischbehältern.
Jeyakanthan S. war einer der Eingeschlossenen. Das bezeugt ein überlebender Landsmann. „Auch Jeyakanthan könnte noch leben“, sagt der Münchner Rechtsanwalt Hubert Heinhold, „aber man hat ihn den Schleppern in die Hände getrieben.“ Mehr als ein Jahr lang hat Heinhold versucht, dem Jungen auf legalem Weg eine Einreise nach Deutschland zu ermöglichen — und war an der „Hinhalte- und Abschreckungspolitik“ der deutschen Behörden gescheitert.
Chronologie einer tödlichen Flucht. Sie beginnt für Jeyakanthan S. im September 1995. Da stellt sein Vater, der seit 1981 mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis in Deutschland lebt, bei der Ausländerbehörde München einen Antrag auf Familienzusammenführung. Seine Frau und sein jüngster Sohn sollen endlich nach Bayern kommen dürfen, wo bereits zwei Söhne als anerkannte Asylberechtigte leben. Beide Söhne verbürgen sich bei der Ausländerbehörde schriftlich. Sie würden finanziell für Mutter und Bruder sorgen. Mit der Verpflichtungserklärung in der Hand stellen Jeyakanthan und seine Mutter im November 95 bei der deutschen Botschaft in Colombo einen Visumantrag zum Zwecke der Familienzusammenführung. Der Antrag bedarf der Zustimmung der Ausländerbehörde.
Die Botschaft bittet also um schriftliche Stellungnahme aus Bayern. Die amtliche Bitte datiert von 5. Dezember 1995. Fast ein Jahr lang passiert nichts. Als Anwalt Heinhold im Oktober 1996 bei der deutschen Botschaft nachfragt, erhält er eine befremdliche Antwort. Man habe — nach zehn Monaten — leider noch keine Antwort aus München. Ob der Schwarze Peter für die Untätigkeit wirklich dort liegt oder bei der deutschen Auslandsvertretung in Sri Lanka, ist bis heute nicht geklärt. Fest steht jedoch: Im November beschwert Heinhold sich erneut. Jeyakanthans 18. Geburtstag steht bevor, und wenn er erst volljährig ist, hat er den Anspruch auf Familiennachzug verwirkt. Doch auch das Mahnschreiben bewirkt keine Aktivität. Im Dezember resigniert Jeyakanthan und vertraut sich den Schleppern an. Das kostet ihm das Leben.
Der junge Mann aus Sri Lanka war nicht der einzige auf dem Fischkutter, dessen Reiseziel Deutschland war. Aufgeregte Angehörige forschen seit der Jahreswende über das Rote Kreuz und den UN-Flüchtlingskommissar nach Vermißten. Einige Angehörige zumindest haben überlebt. Sie gehören zu den 110 Flüchtlingen, die die griechische Küstenwache aufgegriffen und inhaftiert hat. Ohne Zugang zu einem Asylverfahren sollten sie ursprünglich in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Erst nach heftigen Protesten aus Deutschland und nach Intervention eines von Anwalt Heinhold eingeschalteten griechischen Kollegen hat das Innenministerium in Athen jetzt die Zusage gemacht: Alle Überlebenden der Katastrophe sollen zumindest einen Asylantrag stellen dürfen.
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