Village Voice:
: Reifeprüfung

■ Tim Fischers Doppel-CD „Chansons live/ Lieder eines armen Mädchens“

Tim Fischer war noch lange keine 18 Jahre jung, aber als „Zarah ohne Kleid“ vom Publikum bereits bejubelt und von den Feuilletons gefeiert. Eine steile Karriere im nicht gerade einfachen deutschen Chansongeschäft: Hunderte von Auftritten und nicht weniger als sechs CDs in knapp vier Jahren.

Tim Fischers neue Veröffentlichung ist in vielfacher Hinsicht nicht nur einfach ein neues Album: Das Wunderkind ist erwachsen geworden. Von hier aus, das spürt man, soll zum nächsten Sprung nach ganz weit oben angesetzt werden. Bei einer großen, internationalen Plattenfirma ist Fischer gelandet. Das Entree bei EMI ist auch gleich ein Doppelalbum geworden.

„Chansons live“, Teil 1 des Doppels, ist ein Querschnitt durch sein bisheriges Repertoire – Highlights, Unverwüstliches wie Hollaenders wahnwitziges Chanson „Stroganoff“ (über die Entstehung des legendären Rindergeschnetzelten). Oder aber die „Rinnsteinprinzessin“, vertont von seinem Pianisten Rainer Bielfeldt, inzwischen zu einem Markenzeichen für den 23jährigen Wahlberliner geworden. Georg Kreisler, Stephen Sondheim, Cole Porter, Rainer Werner Fassbinder: Fischers Repertoire bedient sich geschickt klassischer, stimmungsvoller Evergreens mit doppelbödigem Humor, und literarisch anspruchsvoller Kompositionen, die beim Publikum weniger Lacher, dafür um so mehr schaurig-ergreifende Gefühle auslösen.

Doch im Vergleich zu den älteren CD-Einspielungen klingt Fischer sicherer – nicht nur im Ausdruck, auch in der Stimme. Alles ist weniger exaltiert, aufgeregt. Die allzu aufgesetzten Effekte, das unnötig Schrille – es fehlt fast gänzlich. Um seinen Interpretationen Kontur zu geben, verläßt sich Fischer nun vielmehr auf das weiche Timbre seiner Stimme, moduliert, statt unnötig exzentrisch zu forcieren. Nur wenn es humoristisch zugehen soll, wird er schelmisch und verschmitzt, zum charismatischen Entertainer. Kaum ein größerer Kontrast ist vorzustellen als Günter Neumanns Kabarettnummer „Neandertaler“, von Fischer forsch und mit Hang zum Lauten, Ordinären vorgetragen, und dann die von Rainer Bielfeldt einfach wunderbar vertonten Gedichte Mascha Kalékos. So viel Stille, Weite, Trauer zwischen den einzelnen Tönen.

Die zweite CD, eine Studioaufnahme mit dem versierten Thomas Dörschel als musikalischem Begleiter, widmet sich allein Friedrich Hollaenders „Liedern eines armen Mädchens“. Recht mutig erscheint es, den kompletten Zyklus aus Anlaß des 100. Todestages des Texters und Komponisten einzuspielen, liegt doch fast zeitgleich eine Wiederveröffentlichung („Vafüre mir lierbs nicht“, BMG Ariola) mit den legendären Aufnahmen Blandine Ebingers aus den Jahren 1929 beziehungsweise 1975 vor.

Glücklicherweise aber versucht Tim Fischer erst gar nicht die piepsig-kindliche Stimmlage der Chanteuse und Ehefrau Hollaenders zu imitieren, sondern findet seinen ganz eigenen Ton für diese lyrischen, traurig-grotesken Lieder. Hollaender hatte sich dabei an Else Lasker-Schülers Drama „Die Wupper“ orientiert, zu dem er die Bühnenmusik komponiert hatte. Die Liedtitel verraten bereits viel von ihrer Stimmung: „Wenn ick mal tot bin“, „Wiegenlied an eine Mutter“, „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ – Geschichten von Hungerkünstlerinnen wider Willen, Berliner Straßenkids der zwanziger Jahre, Waisen- und Arme-Leute-Schicksale aus der Perspektive von Kindern, die eine Zukunft nur im Freitod und im Himmel finden.

Wo Blandine Ebinger mit der unschuldigen, scheinbaren Naivität des Kindermundes singt, und Witz und Entsetzen ineinandergleiten läßt, herrscht bei Fischer der sanfte, melancholische Tonfall. Ein Schmerz jedoch ohne Mitleid. Für zwei der vierzehn überlieferten Lieder des Zyklus existiert keine Originalpartitur mehr; Serge Weber hat für diese Aufnahme „Jeheimnis der Blumen“ und „Mit einer scheußlichen Puppe“ neu vertont. Er folgt den Pfaden Hollaenders, aber umgeht ein billiges Plagiat. Minimale dissonante Akzente, die einem einen Schauer den Rücken hinunterjagen. Axel Schock

Tim Fischer: „Chansons live/ Lieder eines armen Mädchens“ (EMI Electrola 7243 8 54930 27)