Die im Kreis herum fahren

Das 86. Berliner Sechstagerennen ist eine Mischung aus Bierdunst, Show und Sport. Im neuerbauten Oval machen die Altstars die Sache unter sich aus  ■ Von Rolf Lautenschläger

Um 22.15 Uhr brodelt das neue Velodrom zum erstenmal so richtig: Pfeifende Zuschauer, pfeifende Bronchien der Radfahrer, krumme Rücken über den Lenkern, die Holzbahn donnert, Musik hämmert im Rhythmus der Pedale. Mit einem „Ssst, ssst, ssst“ brettern die siebzehn Zweierteams auf die restlichen Runden, schleudern sich mit schweißnassen, fast platzenden Waden nach vorn. Tour-Recke Olaf Ludwig aus der Schultheiss-Mannschaft und Altstar Andreas Kappes vom Team Sorat bilden das Führungsduo bei der „Großen Schultheiss-Jagd“ über 45 Minuten.

Dann kommt die vorletzte Steilkurve, Kappes greift Ludwig an, stößt von oben herunter. Ludwig hält dagegen, tritt wie verrückt in die Pedale, holt alles aus sich heraus. Auf der Zielgeraden sind beide gleichauf. Die 9.000 Besucher stehen auf. Noch zehn Meter, fünf, drei – Ludwig hat eine Reifenbreite Vorsprung. Reicht es? Es reicht.

„Ahhh, unser Berliner Junge.“ Der Satz geht im Pfeifkonzert des „Sportpalastwalzers“ unter. Der Olaf steigt vom Sattel. Alles ist gut. Die Wertungspunkte sind eingefahren. Ein Radrennorgasmus pendelt aus. Jetzt ist Pause, Showtime mit der unsäglichen Five Set Band. In einer Stunde muß Ludwig wieder strampeln.

Sieben Jahre haben die Radsportfans warten müssen, bis wieder ein Startschuß zu einem Sechstagerennen gefallen ist. Wohl deshalb sind die „86. Six-Days“ im neuen Oval von Dominique Perrault mehr Volksfest aus einer Mischung aus Show und Bierdunst als Sport. Denn während die Rennfahrer in verschiedenen Ausscheidungen im Kreis radeln „und von der tollen Stimmung“, wie Veranstalter Heinz Seesing meint, wenig mitkriegen, herrscht auf den Rängen und bei den Trinkern aus der vermeintlich besseren Gesellschaft, die im Innenraum der Arena Bier aus Plastikkrügen süffeln, Kneipenatmosphäre.

„Das Sechstagerennen“, sagt Uwe Kühn, der als Betreuer im E-Plus-Team für „Steher“ von Rennen zu Rennen zieht und dafür seine Apotheke im Ruhrgebiet aufgegeben hat, „ist immer noch wie ein Rummel, eine Kirmes für die Massen, auch wenn es jetzt vornehmlich um Kohle, Sponsoring und Werbung geht. Der Lärm und die Lichter bilden die Kulisse. Die Rennen sind Begleitmusik.“

Er und Manfred Schmadtke, der als Schrittmacher bei Steherrennen mit seinem schweren Motorrad „MZ“ die Fahrer bis auf 80 Stundenkilometer im Windschatten hinter sich „mitzieht“, kennen die Welt im Holzoval: Im Würstchendampf Nacht für Nacht die High-Tech-Räder montieren, Muskeln massieren, Kohlenhydrate verabreichen, fachsimpeln beim „Einrollen“ der zehn Profis und Amateure seiner Mannschaft. Dafür sitzt er in den Kantinen oder hängt während der Rennen im Fahrerlager rum.

In der Velohalle haben die Sprinter ihre Ruheecken an der Stirnseite des Stadions zugewiesen bekommen. Ein karger Holzverschlag mit Pritzsche, zwei Meter lang, einsfünfzig breit, davor ein Vorhang. Der Schweizer Weltmeister-Fahrer Bruno Risi hockt dort zusammengekrümmt, sein Teamkollege dagegen entspannt sich. Daneben platzt Olympiasieger Jens Fiedler mit Helm und dicken Beinen fast aus dem Körbchen. Es wird aus Eimern getrunken und in Eimer gepinkelt. An Ruhe oder gar Schlaf ist hier nicht zu denken.

„Steher“ Stefan Schmitz, Gewinner des Deutschland-Cups 1996 und hauptberuflich Kriminalkommissar, hält es nicht in der Koje, und der Lärm macht ihm auch nichts aus. „Die Atmosphäre in der Halle macht mich an, ich krieg' sogar während der Rennen die Zuschauer mit“, sagt er. Selbst die Auspuffgase der MZ, die er schlucken muß, fechten ihn nicht an.

Für Schmitz, der um 23 Uhr im „Esso-Pokal-Rennen“ nur auf die Plätze kommt – vielleicht, weil er nicht so unförmig muskelbepackt ist – sind die 86. Six-Days „das“ Ereignis: die neue Halle, der Fichtenholzbelag, das eingespielte Team. Nur schade, daß er als Amateur auch gegen die Profis fahren muß. Die gewinnen nicht nur meistens, sondern stecken auch noch kräftig die Gage ein – bis zu 10.000 Mark pro Rennen. Dafür müssen sie halt sechs Tage lang im Kreis fahren. So wie der Ludwig, „der sich wieder an die Spitze setzt“. Ssst, ssst, ssst.