Massenrausch, Orgie und Kraftmeierei

■ Beim Sechstagerennen trafen sich schon immer Proletarier, Kleinbürger und Adlige. Früher strampelten die Fahrer in dem brutalen Ritual 3.000 Kilometer, heute noch 1.300

Der Sieg beim dritten Berliner Sechstagerennen 1911 hing zeitweise von einer Banane und einem Glas Sekt ab. „Sechstage-Kaiser“ Walter Rütt – Volksidol und begnadeter Radfahrer, der in den USA schon einige Triumphe im Holzoval gefeiert hatte – schien im Sportpalast an der Potsdamer Straße dem sicheren Sieg entgegenzufahren. In einer Pause trat eine Dame an seine Fahrerkoje.

Die Schauspielerin sah ihm tief in die Augen, reichte ihm ein Glas Sekt, prostete ihm zu. Auf der Stelle schüttete Rütt die prickelnde Erfrischung hinunter. Die nächsten Runden fuhr er wie ein junger Gott. Wieder Rennpause: Die Schöne beißt verführerisch in eine Banane, schiebt dem Radler die andere Hälfte zwischen die Zähne. Zehn Minuten später windet sich Rütt in Krämpfen. War doch die Verheißung einer heißen Nacht von der Konkurrenz geschickt, um den angehenden Sieger mit einem einfachen Mittel aus der Trickkiste des Antidopings lahmzulegen. Beinahe wäre die Taktik aufgegangen. Jedoch: Man pumpte dem Held den Magen aus, und mit stechenden Schmerzen in der Magengrube gewann Rütt trotzdem.

Die Sechstagerennen – seit 1909 fanden sie zuerst in den Ausstellungshallen am Zoo, ab 1911 im Sportpalast statt – waren ein archaisches und brutales Ritual, bei dem die Rennfahrer das Letzte aus sich herauspreßten. Sechs Tage fuhren die Zweiermannschaften im Kreis, 144 Stunden insgesamt. Einer mußte immer auf der Bahn sein. Nur drei Stunden täglich hatte jeder Gelegenheit, ohne Unterbrechung zu schlafen.

„Im Vergleich dazu sind die Rennen heute auf den Hund gekommen“, sagt Heinz Zoll. In den Fünfzigern stand er mehrmals ganz oben auf dem Treppchen der „Six Days“. Zoll: „Ich bin nicht ein Rennen unter 3.000 Kilometer gefahren.“ Heute bleibt den Radprofis vieles erspart. Sie kreisen „nur“ 1.200 oder 1.300 Kilometer um die Musikkapelle, die aus der Mitte des Stadions den Takt für die manische Jagd liefert. Acht Stunden wird pro Tag gefahren.

Massenrausch und Suff, Orgie und Kraftmeierei: Die Rennen zogen schon früh alle Schichten der Bevölkerung in ihren Bann – auch linke Intellektuelle. Die Arena hieß in den zwanziger Jahren die damals „wohl hochkarätigste Sportzeitschrift“, wie der Verleger und Sammler Alfons Arenhövel sagt (Buchtip siehe unten). Von John Heartfield stammen die Umschlaggraphiken, Egon Erwin Kisch steuerte Reportagen bei, und auch Bert Brecht lieferte eine Geschichte über den Sport.

In den Arenen des Radsports – Sportpalast und später Deutschlandhalle – trafen sich schon immer Proletarier und Adelige, Kleinbürger und Industrielle. Im Sportpalast waren die billigen Plätze auf dem sogenannten „Heuboden“, einer Galerie in der Kurve, den kleinen Leuten vorbehalten, den eigentlichen Fachleuten des Sports, die alles über ihre Lieblinge wußten. Der Heuboden bestimmte oft das Geschehen: Entdeckten die Wortführer einen Prominenten im Gewühl, verlangten die Sprechchöre von oben bald eine Runde Bier für alle auf der Galerie. Trotzdem kamen nachts, wenn die Theater geschlossen hatten, immer die feinen Leute in Frack und Zylinder, präsentierten sich auf der Holzbrücke zum Innenraum der Bahn und labten sich am Nebel aus Tabak, Bierdunst und Schweiß.

Selbst allerhöchster Gnade erfreute sich das Rennen. Der Kronprinz der Hohenzollern war vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur persönlich anwesend, sondern setzte sich auch beim Kaiser dafür ein, daß Walter Rütt antreten durfte. Der Rennfahrer hatte sich nämlich zuvor in die USA verdrückt und so den Militärdienst für Volk und Vaterland umgangen.

Vielleicht war es das gedeihliche Miteinander von Gesellschaftsschichten, das die Nazis mit Argwohn betrachteten und die braunen Machthaber schließlich 1934 zur Beendigung der Sechstagerennens veranlaßte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg spielte die Kapelle an der Potsdamer Straße wieder den Sportpalastwalzer, dessen Komponist Siegfried Translateur in Theresienstadt ermordet wurde. Hannes Koch

Alfons Arenhövel (Hrsg.): „Arena der Leidenschaften. Der Berliner Sportpalast und seine Veranstaltungen 1910-1973“. Berlin 1990.