Auschwitz als Metapher

Gedenken als gesellschaftliche Konvention. Warum man aus Auschwitz nichts lernen kann  ■ Von Hanno Loewy

„Es gibt wenig noch zu erzählen: Was nachher kommt, ist bloß Nachklang, Echo, Zittern der Nerven. Nach diesem Erlebnis hat unser Dasein, immer am Rand des Todes, eine sehr einfache Form bekommen...

Wenn so etwas möglich war, was gibt es dann noch?

Wozu noch Krieg?

Wozu noch Hunger?

Wozu noch Welt?“

Der Schriftsteller Oskar Rosenfeld schrieb diese Zeilen im Ghetto von Lodz, nach der Deportation der Kinder im September 1942 in das Vernichtungslager Kulmhof. Kulmhof, Chelmno: Dort war Ende 1941 das erste Vernichtungslager von den Nazis errichtet worden. Ein Lager, dessen wichtigste Einrichtung ein paar Lastwagen waren, die zum Zweck der Tötung durch Giftgas von einer Berliner Firma mit geeigneten Aufbauten versehen waren. Von dem Lager, in dem diejenigen untergebracht waren, die die Leichen verbrennen mußten, blieb kaum etwas übrig. Nach der Auslöschung der Opfer, 150.000 Juden und 5.000 burgenländische Roma, kam die Beseitigung der Spuren des Verbrechens. Rechtzeitig vor dem Eintreffen der Russen tilgte die SS die Überreste ihrer Taten. Und nach dem Ende des Krieges folgte die Besetzung des Ortes mit den Zeichen einer stellvertretenden Erinnerung. Am Eingang zum Gelände wurde ein Kreuz errichtet ... Eine Waldlichtung, irgendwo in Polen.

Die Firma, die die Lastwagen mit den Sonderaufbauten für die Vergasungen geliefert hatte, Gaubschat, residierte in Berlin- Neukölln, mitten in der Stadt. Was haben sich die Mitarbeiter gedacht, wofür die Spezialanfertigungen bestimmt wären? Das Unternehmen Topf & Söhne, das für Auschwitz die damals modernste Krematoriumstechnologie lieferte, was dachten seine Mitarbeiter, die 32 Öfen in das Städtchen in Ostoberschlesien an das KL-Auschwitz lieferten. Topf & Söhne blieb nach dem Kriege ein angesehenes Unternehmen mit neuem Firmensitz in Wiesbaden.

Erinnerungen, die uns nicht gehören

Oskar Rosenfeld konnte im Ghetto von Lodz 1944 noch seinen 60. Geburtstag begehen. Im August wurde er, zusammen mit mehr als 60.000 Ghettoinsassen, nach Auschwitz deportiert und vergast. Woran, an wen, wollen wir gedenken, national und regional? Wir klauben Erinnerungen auf, die uns nicht gehören, Nachrichten von unterwegs, an einen Ort, an den wir nicht gelangen können. Und zu dem heute im Jahr mehr als eine halbe Million Menschen fahren, um eben das festzustellen. Eine andere Flaschenpost, ein Brief aus Dresden, vom Bahnhof, März 1944.

„Meine innigstgeliebten Kinder alle. Das ist eine lange und langweilige Reise; am 1. Tag sind wir über Halle bis Leipzig!! Wie gerne hätte ich Tante Lotte noch mal gesehen! Leipzig sieht böse, böse aus, am Bahnhof, Augustus-Platz u. in der ganzen Innenstadt nur Trümmerhaufen. Wir sitzen nun schon seit 3 Uhr hier in Dresden am Bahnhof u. hören eben, daß der Zug erst um 10 Uhr heute abend weitergeht. Morgen aben werden wir dann in Auschwitz sein. Die Mitteilungen darüber, wie es dort sein soll, sind sehr widersprechend. Es kann sein, daß ich nach 4 oder sogar nach 8 Wochen schreiben darf, seid also bitte nicht in Sorge, wenn ihr jetzt länger nichts hören solltet. (...) Wir müssen nun abwarten, wie alles wird. Ich werde weiter tapfer sein und fest die Zähne zusammenbeißen, an Euch denken und durchhalten, wenn's auch noch so schwer sein wird. Solltet ihr mir Pakete schicken dürfen, so denkt bitte immer mal wieder an Zahnpasta, Haarnadeln und Körperpuder...“

Was sollen wir aus solchen Briefen lernen, was aus dem Ort, an den die Briefschreiberin fuhr, ohne daß man noch etwas von ihr gehört hätte. Deportiert worden war sie aus der Schutzhaft im hessischen Breitenau, wo sie eingeliefert worden war, weil sie einmal vergaß, ihren Vornamen Lilly mit Sara zu komplettieren. Heute ist es geradezu zu einer gesellschaftlichen Konvention geworden, von den „Lehren aus Auschwitz“ zu sprechen. Das „Nie wieder“ ist zu einer allgemeinen Formel der political correctness geworden. Darin liegt weniger eine Anmaßung derjenigen, die sich so spät oder gar heuchlerisch in den Chor gemischt haben, als die Möglichkeit, die Anmaßung zu erkennen, die vielleicht schon immer in dem Bekenntnis zu den „Lehren aus Auschwitz“ gelegen hat. Das Eis der political correctness ist dünn. Es endet zumeist schon an den Rändern der Gedenkstätten, auf deren Gelände die Politiker ihre Worte sorgsam abgewogen haben.

Was sollen wir erinnern? Ein Gedenktag für die „Opfer des Nationalsozialismus“ ist ausgerufen worden. An dem Tag, an dem sich die „Befreiung“ von Auschwitz- Birkenau jährt.

Und es war vermutlich eine weise Entscheidung, nicht den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ zu begehen, so nahe dies, wie es scheint, auch gelegen hätte.

Befreiung impliziert eine Opferrolle

Wer am 8. Mai 1995 von Befreiung sprach, tat so, ob er wollte oder nicht, als zähle er Deutschland zu den Opfern oder zumindest zu den Geiseln des Nationalsozialismus. Gerade an jenem 8. Mai, wäre an diesem Tag nicht zunächst von den Tätern zu sprechen und denen, die bis zuletzt zu ihnen hielten, aus welcher Begeisterung und Hinabe, falsch verstandener Loyalität oder praktischem Interesse auch immer?

Wäre an jenem Tag nicht zuerst von einer Gesellschaft die Rede, die als Ganzes, arbeitsteilig und bürokratisch, getragen von einem entfesselten Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger, sich selbst zu einer Vernichtungsmaschinerie radikalisiert hat, ohne daß irgendwoher aus dem Innern dieser Gesellschaft noch die Kraft zum Einhalten gekommen wäre?

Und wer von „Niederlage“ sprach, sprach er nicht zumeist in einem Ton davon, der nahelegte, es hätte zu dieser „Niederlage“ irgendeine Alternative gegeben? Das deutsche Volk war, so schien es, ein Opfer einer Verschwörung. Nur das Personal dieser Verschwörung wechselte, je nach Zeit, Ideologie und politischer Position. Erst kürzlich wurde von Gräfin Dönhoff in kongenialer Zusammenarbeit mit Alice Schwarzer eine neue Variante dieser Anschauung in aller Offenheit und mit großem Publikumserfolg verbreitet. Der deutsche Widerstand sei nur deswegen nicht zum Zuge gekommen, weil die Alliierten ihn verraten hätten, um Deutschland ungestört vernichten zu können.

Die „Zweite Diktatur“, von der heute alle so bereitwillig reden, als gelte es, eine imaginäre Konkurrenz der „Opfer der Diktaturen“ zu gewinnen, war weder die Fortsetzung der Geschichte noch die Rache der Sieger, sondern die realpolitische Konsequenz aus dem Ergebnis dieses Krieges. Der Versuch freilich, die geopolitischen Konsequenzen der Sowjetunion aus dem Vernichtungskrieg der Nazis mit den Utopien eines anderen Deutschlands zu verbinden, diese Träume fußten nicht auf den „Lehren von Auschwitz“, sondern aus dem Vergessen des Holocaust. Weder der Geschichtsoptimismus der Erziehungsdiktatur des „realen Sozialismus“ noch die Identifikation „der Deutschen“, jedenfalls „des kleinen Mannes“ mit dem Widerstand, wie er in der DDR zuweilen geradezu rituell vollzogen wurde, hätten eine tatsächliche Erinnerung an Auschwitz überstanden.

Da hatte es der Westen leichter. Von den bösen Helden der Vergangenheit wechselte man zu neuen Identifikationsangeboten, die Entlastung versprachen, Entlastung von Vergangenheit und politischen Utopien zugleich, zum Versprechen einer immerwährenden „Gegenwart“. Kleinfamilie, wirtschaftlicher Erfolg, Konsum, Technik. Daß auch diese Flucht vor den schlechten Kontinuitäten sich im Kreise bewegte, wissen wir jetzt. Doch nicht viel mehr. Und für die Überlebenden der Lager, für die der Begriff „Befreiung“ doch so unzweifelhaft Gültigkeit besitzt: Was war dieser Tag für sie? Dafür interessierte man sich damals am allerwenigsten und bis heute nur, wenn es sich nicht vermeiden läßt.

Auf die Gegenwart der Lager nicht vorbereitet

Waren diese Lager etwas, aus dem man überhaupt befreit werden konnte? Es gibt kaum ein anderes Datum, das uns über das Desaster dieser Befreiung mehr verraten könnte, als den 27. Januar 1945. Jener Tag, als sowjetische Truppen den Ort Oświęcim erreichten und auf jene wenigen Häftlinge stießen, die an diesem Tag noch lebten. Historisch war dieser Tag eine Petitesse. Die Alliierten befreiten die Lager im Vorübergehen, sie kämpften keinen Krieg gegen die antisemitische Vernichtungspolitik der Nazis, sondern einen Krieg gegen ein Deutsches Reich, das den Rest der Welt überfallen hatte. Sie waren auf diese Lager, auf die Gegenwart des Holocaust, den Anblick der Leichenberge und auf das, was die Überlebenden von ihnen zu Recht erwarteten, nicht vorbereitet. Und das, obwohl die Nachrichten über die Lager schon seit Jahren zirkulierten. Die Lager, auf die die alliierten Truppen seit dem Sommer 1944 (Majdanek), vor allem aber in den letzten Kriegsmonaten stießen, waren für sie Orte auf einem anderen Stern.

Primo Levi schildert diese Begegnung in seinem Buch „Die Atempause“ sehr eindrücklich. Er gehörte zu den letzten 800 kranken Häftlingen von Auschwitz-Monowitz, die die fliehende SS nicht mehr erschoß, sondern zehn Tage im Niemandsland allein ließ. Hunderte von ihnen starben noch vor der Befreiung.

„Die erste russische Patrouille“, schreibt Levi, „tauchte gegen Mittag des 27. Januar 1945 in Sichtweite des Lagers auf. Charles und ich entdeckten sie zuerst: wir waren dabei, die Leiche Sómogyis, des ersten, der aus unserem Raum gestorben war, in das Massengrab zu transportieren. Wir kippten die Bahre auf dem zertretenen Schnee aus, denn da das Grab inzwischen voll war, gab es keine andere Begräbnismöglichkeit. Charles nahm die Mütze ab, um die Lebenden und die Toten zu grüßen.

Es waren vier junge Soldaten zu Pferde; vorsichtig ritten sie mit erhobenen Maschinenpistolen die Straße entlang, die das Lager begrenzte. Als sie den Stacheldraht erreicht hatten, hielten sie an, um sich umzusehen, wechselten scheu ein paar Worte und blickten wieder, von einer seltsamen Befangenheit gebannt, auf die durcheinanderliegenden Leichen, die zerstörten Baracken und auf uns wenige Lebende.

Sie erschienen uns auf wunderbare Weise körperlich und wirklich, hoch oben (die Straße lag höher als das Lager) auf ihren ungeheuren Pferden zwischen dem Grau des Schnees und dem Grau des Himmels, regungslos unter den Tauwetter verheißenden Windstößen.

Es schien uns, als hätte das vom Tod erfüllte Nichts, in dem wir seit zehn Tagen wie erloschene Sterne kreisten, ein festes Zentrum bekommen, einen Kondensationskern, und so war es wohl auch: vier bewaffnete Männer, aber nicht gegen uns bewaffnet: vier Friedensboten mit bäuerischen, kindlichen Gesichtern unter den schweren Pelzmützen.

Sie grüßten nicht, lächelten nicht; sie schienen befangen, nicht so sehr aus Mitleid als aus einer unbestimmten Hemmung heraus, die ihnen den Mund verschloß und ihre Augen an das düstere Schauspiel gefesselt hielt. Es war die gleiche wohlbekannte Scham, die uns nach den Selektionen und immer dann überkam, wenn wir Zeuge einer Mißhandlung sein oder sie selbst erdulden mußten: jene Scham, die die Deutschen nicht kannten, die der Gerechte empfindet vor einer Schuld, die ein anderer auf sich lädt, und die ihn quält, weil sie existiert, weil sie unwiderruflich in die Welt der existenten Dinge eingebracht ist und weil ein guter Wille nichts oder nicht viel gilt und ohnmächtig ist, sie zu verhindern.“

Primo Levi erinnert an das Wichtigste, was in den Jahren zwischen 1933 und 1945 der deutschen Gesellschaft abhanden kam, nämlich die Substanz dessen, was Zivilisation war und ist: der Anspruch auf eine Solidarität (oder weniger pathetisch: eine Verbundenheit) alles Menschlichen auf diesem Erdball. Eine Verbundenheit, die sich in der Fähigkeit äußert, selbst für das, was ein anderer tut, ja, einem selber antut, Scham zu empfinden. Die Juden erschienen den Nazis, und schließlich der deutschen Gesellschaft als Ganzes, letzten Endes auch als unerträgliche Verkörperung jenes universalistischen Prinzips, dessen Beseitigung erst den Weg öffnen würde zur Verwirklichung ihrer völkischen, rassistischen Utopien. Und deswegen, vor allem deswegen, hatte ihr Rassismus mit dem Antisemitismus so viel zu tun und war doch alles andere als dasselbe.

Der Zivilisationsbruch wird zur Leerformel

Es ist zu einem Allgemeinplatz geworden, Auschwitz als eine Zäsur der Geschichte anzusehen. Selbst Dan Diners Formulierung vom „Zivilisationsbruch“ ist längst zur Leerformel verdünnt worden, unter der jeder das versteht, was er verstehen will. In den Gedenkreden zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau konnte man glühende Bekenntnisse zu den richtigen Konsequenzen aus der Geschichte vernehmen, Bekenntnisse, die nicht frei von Widersprüchen waren.

So ließ es Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth in Frankfurt nicht an einem deutlichen Hinweis auf die Verwerflichkeit des russischen Angriffs auf die tschetschenische Hauptstadt Grosny fehlen („Nie wieder Krieg“), während der russische Gesandte es sich nicht nehmen ließ, Terrorismus, Extremismus und Separatismus anzuprangern, die zu Auschwitz geführt hätten.

Hermann Langbein forderte die Jugend auf, sich ein für allemal vom Übel des Rassismus zu befreien, und eine Lesung aus Peter Weiss' Doku-Drama „Die Ermittlung“ erinnerte alle Teilnehmer der Veranstaltung daran, daß eine ganze Generation kritischer Intellektueller ernsthaft geglaubt hatte, die bürgerliche Gesellschaft und der Kapitalismus hätten zu Auschwitz geführt.

Auschwitz, so scheint es, ist bis heute kaum Anlaß für Zweifel, eher für Versuche, die jeweils eigenen Deutungen der Geschichte mit einem endgültigen Beweis, einer Letztbegründung zu versehen, die über jeden Zweifel erhaben ist. Alle betroffenen Nationen, alle Religionen und Ideologien, alle wissenschaftlichen Denkschulen haben sich, ihren Paradigmen und Traditionen entsprechend, ihr eigenes Auschwitz oder besser ihre eigene Methapher „Auschwitz“ geschaffen.

Das reale Auschwitz, die Massenvernichtung, wird von diesen Deutungen eher verborgen als im Gedächtnis bewahrt. Die Erinnerung an Auschwitz scheint lebendiger denn je, aber ihre Lebendigkeit in den kleinen und großen Konflikten der Gegenwart ist da, wo sie sich vom realen Trauma der Überlebenden und ihrer Nachkommen ablöst und zur Parole wird, eher eine Funktion der Selbstdeutungsbedürfnisse und Identifikationsprozesse von Gruppen und Individuen. Nicht überall wurde dies so deutlich wie im ehemaligen Jugoslawien, wo serbische Agitatoren mit der realen Erinnerung an deutsches und kroatisches Massenmorden im Zweiten Weltkrieg (und den damit verbundenen virulenten Ängsten) Politik machten und Krieg führten. Und sich auf der anderen Seite die Opfer dieser Aggression in die Rolle des Warschauer Ghettos hineinimaginierten, um die Weltöffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen.

Analogien mit der Geschichte des Holocaust heizten den Konflikt an, anstatt die Suche nach politischen Lösungen zu befördern, und wer mit ihnen hierzulande meinte, Politik „für Bosnien“ machen zu können, spielt dieses fatale Spiel mit. In der Universalisierung von Auschwitz, in der Metaphorisierung der Realität, die sich hinter diesem Wort verbirgt, zur politischen Allzweckwaffe zur Erweckung von Betroffenheit, liegt ein gehöriges Maß an Entlastung. Die Bilder von Auschwitz wurden nicht nur fahrlässig benutzt, sie wurden zugleich auch bis zur Unkenntlichkeit umgedeutet.

Die Probleme, die eine Einwanderungsgesellschaft besitzt, wie sie Deutschland nach 1945 de facto geworden ist, sind andere als die der deutschen Gesellschaft von 1920 oder 1930. Lösungen für diese Probleme sind nicht einfach dadurch zu finden, heute nachholend etwas richtig zu machen, was 1933 oder 1938 falsch gemacht worden ist. Die Kämpfe von gestern zu führen, hat keinen Sinn mehr, außer den, sich die Illusion von Handlungsfähigkeit zu verschaffen, wo es nicht einmal ein Bewußtsein der gegenwärtigen Probleme gibt.

Die Juden wurden nicht ermordet, weil sie „anders“, weil sie „Fremde“, weil sie „Immigranten“ waren, sondern weil sie an etwas erinnerten, was untrennbar zu einem selbst, zur Geschichte der eigenen Zivilisation gehörte. Aus Ausgrenzung und Vertreibung wurde Massenmord, weil es eine andere Form der Trennung dazwischen nicht geben konnte. Der Versuch der Auslöschung der Juden, der Vernichtungsantisemitismus, richtete sich keineswegs zufällig und schon gar nicht aus ökonomischen Motiven gegen die Juden.

Sie standen für die Nazis für die Wurzeln der Zivilisation, die überwunden werden sollte. Sie standen symbolisch für alles, was mit den zivilisatorischen Schranken verbunden wurde. Der Monotheismus und die Gesetze, das Tötungsverbot und die Erinnerung an die Geschichtlichkeit des Menschen, das Liebesgebot und die Achtung der Fremden, der fortwährende Zweifel und das Beharren auf der Spannung zwischen irdischer Welt und Erlösung. Die Juden, mehr als Metapher schließlich denn als Realität, als Phantasmagorie des „Weltgewissens“, standen in der Tat überall im Weg, und deshalb sollten sie schließlich auch überall ermordet werden.

Das Gedenken an Auschwitz, die Suche nach seinem Ort im Gedächtnis, sie landet irgendwann in den Schreibstuben eines lokalen Wohnungsamtes, in den Büros einer Firma, die die Technik für das Morden ein wenig modernisiert, in den verschlossenen Akten eines Unternehmens, das seine Prosperität auf den Ruinen eines arisierten Vorgängers aufbaute. Das Gedenken an Auschwitz hat kein zentrales Symbol außer dem Ende der Gleise, an dem es der polnische Staat sich nicht nehmen ließ, ein paar Flammenschalen, verziert mit dem höchsten polnischen Orden, zu plazieren.

Beinahe ein neuer Gründungsmythos

An Auschwitz zu erinnern heißt, unermüdlich gegen jene Deutungen und Indienstnahmen von Auschwitz anzukämpfen, die das Trauma von Auschwitz in beruhigende Sätze einzusperren versuchen, die mit „wegen Auschwitz“ anfangen. „Dies hätte nicht geschehen dürfen“, hat Hannah Arendt einmal geschrieben. Diesen einfachen, lakonischen Satz auszusprechen, klingt schon fast wie eine Beleidigung des „guten Willens“: angesichts der immer martialischeren Formen des Gedenkens in Deutschland, angesichts nationaler Gedenktage und nationaler Holocaust-Denkmäler, angesichts eines neuen Nationalgefühls, das den Holocaust nicht mehr ausschließt, sondern im Stolz auf dessen angeblich so kathartische, erzieherische Wirkung geradezu zum Gründungsmythos, zum Gründungsopfer eines neuen deutschen Sendungsbewußtseins mystifiziert.