Verlassen zwischen allen Fronten

Seit sie aus der Türkei in den Nordirak flohen, wurden die kurdischen Flüchtlinge hin und her geschoben und von allen Seiten bedroht. Jetzt stellte der UNHCR ihre Versorgung gänzlich ein  ■ Von Helen Feinberg

Berlin (taz) – Winterlicher Matsch und Regen haben die vormals weißen Zelte grau und braun eingefärbt. Tief duckt sich die Zeltstadt in die Talsenke unterhalb des Städtchens Atrusch in Irakisch- Kurdistan. In dem Flüchtlingscamp lebten zuletzt etwa 14.000 KurdInnen aus der Türkei. Noch schieben auf den umliegenden Hügeln einige Posten Wache, doch könnten sie ihren Dienst in ein paar Tagen quittieren.

Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) hat Anfang der Woche seinen Einsatz im Flüchtlingscamp Atrusch offiziell für beendet erklärt. Das Camp werde von der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) kontrolliert, so daß die politische Neutralität des UNHCR und seiner humanitären Hilfe nicht mehr länger gewährleistet sei, lautete die Begründung. Bereits im Dezember waren sämtliche Lebensmittelzuwendungen eingestellt worden. Damit beendet der UNHCR einen Konflikt, der seit drei Jahren andauert.

Im März 1994 waren mehrere hundert türkische KurdInnen über die Grenze in die von den Golfkriegsalliierten eingerichtete Schutzzone für die irakischen KurdInnen entlang der türkisch-irakischen Grenze geflohen. Sie ließen sich in einem Lager in der Nähe der Grenzstadt Sacho nieder. Die türkische Regierung behauptete, bei den Flüchtlingen handele es sich ausnahmslos um „Terroristen“ der verbotenen PKK, und forderte deren Auslieferung. Überwiegend handelte es sich jedoch um Frauen mit Kindern sowie alte Männer, die vor dem Krieg zwischen Armee und PKK geflohen waren.

Die türkische Luftwaffe überflog das Camp mit Kampfflugzeugen und Helikoptern und bombardiert die unmittelbare Umgebung. Obwohl Ankara damit gegen das über dem Nordirak geltende Flugverbot nördlich des 36. Breitengrads verstieß, wurden die Übergriffe nicht geahndet.

Unterdessen kam es zu den ersten Spannungen zwischen den Flüchtlingen und dem UNHCR. Während der UNHCR eine Verlegung des Camps weiter ins Landesinnere verlangte, forderten die Flüchtlinge, daß in Türkisch-Kurdistan eine UN-Schutzzone eingerichtet werde, um ihnen die Rückkehr zu ermöglichen. Die PKK versuchte, Einfluß auf das Geschehen zu nehmen, indem sie von den Flüchtlingen den Verbleib im unsicheren Grenzgebiet verlangte.

Nachdem sich weitere 10.000 KurdInnen aus der Türkei auf den Weg nach Irakisch-Kurdistan machten, begann die türkische Armee das Grenzgebiet abzuriegeln: Flüchtlingstrecks wurden aus der Luft und vom Boden beschossen und so zur Umkehr gezwungen. Die türkische Regierung forderte, das Lager bei Sacho aufzulösen. Dort tätige internationale Hilfsorganisationen wurden beschuldigt, „Terroristen“ zu unterstützen.

Nach monatelangem Hin und Her wurde die Flüchtlinge nach Atrusch verlegt. Das dortige Gelände bietet mehrere Vorteile: Es liegt an einer Hauptverkehrsstraße, gleichzeitig trennen es mehrere Bergmassive und Täler von der Grenze und damit vom Operationsgebiet der PKK-Guerilla. Doch die vermeintliche Sicherheit hielt nur einen Winter lang. Als Ankaras Armee im Frühjahr 1995 in Irakisch-Kurdistan einmarschierte, drangen die Soldaten bis kurz vor das Camp vor. In UNHCR-Kreisen geht man davon aus, daß im Rahmen dieser Operation über 20 Personen von der Armee in die Türkei verschleppt wurden.

Die Krise erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt, als die PKK im Sommer 1995 der irakischen Demokratischen Partei Kurdistans (KDP), die das Gebiet kontrolliert, den Krieg erklärte. Die Flüchtlinge wurden verdächtigt, Kämpfer und Waffen zu verstecken, UNHCR und andere Hilfsorganisationen suspendierten ihre Aktivitäten, bis die Flüchtlinge einer Durchsuchung zustimmten. Die Anschuldigungen stellten sich als haltlos heraus. Jedoch benutzte die PKK das Camp als Nachrichtenbasis und versuchte, das Flüchtlingskomitee unter Druck zu setzen.

Die meisten Flüchtlinge in Atrusch haben nie einen Hehl gemacht aus ihren Sympathien für die PKK. Am Hofzaun der improvisierten Zeltschule des Lagers hängt ein Bild des PKK-Chefs Abdulla Öcalan. Gleichzeitig betonten sie jedoch, daß ihnen die Brutalität der Soldaten und Todesschwadronen in der Türkei gar keine andere Wahl lasse.

Laut UNHCR haben inzwischen über 1.000 Personen das Camp verlassen, um sich den PKK- KämpferInnen anzuschließen. Unterdessen wurden im Grenzgebiet zwei Transitlager eingerichtet, von wo aus die Flüchtlinge in die Türkei zurückkehren sollen. Doch dorthin will kaum jemand. Tausende sind in Atrusch geblieben. Durch die Beendigung des UNHCR-Mandats haben sie aber jeglichen internationalen Schutz verloren. Und ohne Überlebenshilfe bleibt ihnen langfristig wohl doch nichts anderes als der Rückweg in die Türkei.