Ein Zauberstab ohne Magie

Vor einem Jahr begrüßten die Türken die Zollunion mit der EU euphorisch. Doch der Wirtschaftsaufschwung kam nicht. Im Gegenteil  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Sie war die große Hoffnung. Als die Zollunion der Türkei mit der Europäischen Union im vergangenen Januar in Kraft trat, war das keine Sache von Experten, sondern interessierte das ganze Volk. Gehandelt wurde sie als Allheilmittel für die marode türkische Ökonomie, als Zauberstab zur verbilligung von Konsumwaren und gegen die hohe Inflation.

Als das europäische Parlament am 13. Dezember 1995 den Vertrag über die Zollunion ratifizierte, nutzte die damalige türkische Premierministerin Tansu Çiller dies für eine großangelegte Propagandakampagne im Wahlkampf. Die Zollunion sollte der Garant gegen „böswillige“ Islamisten sein, die das Ruder umdrehen und die Türkei statt in Richtung Westen in den Osten rudern wollten. Die Propaganda zeigte Wirkung. Die Türken jubelten der Zollunion zu. Meinungsforschungsinstitute berichteten stolz, daß über 80 Prozent der Türken für die Zollunion mit der EU Partei ergreifen würden.

Über ein Jahr ist mittlerweile vergangen. Die türkischen Politiker, allen voran die jetzige Außenministerin Çiller, schweigen sich zur Zollunion aus. Çiller koaliert heute mit den Islamisten, deren Regierungsbeteiligung sie mit der Zollunion verhindern wollte. Die mit dem Versprechen auf billige Fernseher und Kühlschränke geköderte Bevölkerung hat längst die Existenz der Zollunion vergessen. Die Inflationsrate will nicht unter 80 Prozent sinken. Und bei den türkischen Großunternehmen, die einst die stärkste Lobby für die Zollunion bildeten, macht sich Enttäuschung breit.

Einen Boom türkischer Textilexporte hatten die Wirtschaftsexperten vorausgesagt. Schließlich entfielen mit der Zollunion, die freien Warenverkehr zwischen der Türkei und der EU vereinbart, die Quotenbeschränkungen für türkische Textilien. Das Gegenteil aber trat ein. In den ersten 11 Monaten des Jahres 1996 sanken die türkischen Textilexporte um 9 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. „Ein verschenktes Jahr für die türkische Textilindustrie“, kommentiert der Vorsitzende der Unternehmer der textilverarbeitenden Industrie, Turan Sarigülle. Auch vom vorhergesagten Zufluß ausländischen Kapitals in die Türkei ist nichts zu merken – im Gegenteil. Die ausländischen Investitionen fielen in den ersten 11 Monaten des Jahres 1996 um 35,2 Prozent. Statt dessen schnellten die Importe in die Höhe und belasten die Außenhandelsbilanz.

Selbst Emre Gönen, Generalsekratär der „Stiftung für Wirtschaftsentwicklung“ und führender Lobbyist für die Zollunion, gesteht heute ein: „Die türkische Öffentlichkeit hat zu recht viele Erwartungen gehegt. Heute herrscht große Enttäuschung. Selbst ein Lichtblick, ein Hoffnungsschimmer fehlt.“

Hinzu kommt, daß im Laufe des ersten Jahres der Zollunion gegenseitige Zusagen nicht erfüllt wurden. 375 Millionen Ecu zur Umstrukturierung der türkischen Wirtschaft wurden inzwischen eingefroren. Und in der Türkei gibt es bis heute weder den versprochenen Wettbewerbsrat noch eine Angleichung des Steuersystems an die EU. Besonders ärgerlich für die türkischen Befürworter der Zollunion ist, daß die EU die Zollunion als Schlußpunkt der Kooperation definiert, während die Türken weiterhin auf EU-Vollmitgliedschaft setzten. „Die Türkei ist noch nicht einmal zum EU-Gipfel eingeladen worden, während sechs ehemalige Mitglieder des sozialistischen Blocks, einschließlich Rumänien und Bulgarien, präsent waren“, konstatiert der Generalsekretär des islamischen Unternehmerverbands „Müsiad“, Ömer Bolat, der von Anfang an gegen die Zollunion opponierte. Bolat verweist auf die jetzt geltenden Handelsbeschränkungen für Textilien aus Pakistan, Usbekistan, Kasachstan und Bosnien.

Sie stießen die islamischen Länder, die „natürlichen Verbündeten“ der Türkei, vor den Kopf – und das, ohne daß die Türkei Vorteile aus der Zollunion ziehe. Bolat, der auch Gehör bei Ministerpräsident Necmettin Erbakan findet, tritt für eine Revision des Vertrags ein.

Obwohl im Koalitionsprotokoll der islamisch-konservativen Regierung die Fortführung der Zollunion vereinbart ist, fehlt es am rechten Willen zur Umsetzung. Und die Islamisten wissen, daß die Euphorie für die Zollunion in Enttäuschung umgeschlagen ist. Der angesehene Wirtschaftskolumnist Güngör Uraș kommentiert zynisch über die EU: „Sie bleibt Partner, wir werden der Markt. Wir haben keine Möglichkeit, Partner zu werden. Wir haben keine Chance uns davon zu befreien, Markt zu sein.“