: Verdun
Wallfahrt zum Vater aller Dinge ■ Von Gabriele Goettle
Montag, 11. November. Feiertäglich gekleidete Spaziergänger flanieren durch die Stadt, die Glocken der Kathedrale läuten, auf der schieferfarbenen Meuse treibt eine Schar junger Schwäne gelassen vorbei. Als Schulkind habe ich in den fünfziger Jahren noch schmettern gelernt: „...Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt – Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!“ Hier in Verdun bescheinigt die Geschichte den blutigen Ernst dieser althergebrachten Zwangsvorstellung (deutsche Nationalhymne wurde sie 1922). Jedes Jahr wird am 1. November eine Fackel am ewigen Feuer des Triumphbogens in Paris entzündet und nach Verdun gebracht. Hier, in der Krypta des Siegerdenkmals brennt sie elf Tage lang, rund um die Uhr bewacht von einer Ehrengarde, zum Gedenken an die bei der Verteidigung Verduns ums Leben gekommenen Soldaten. Am 11. November 1918, morgens fünf Uhr, wurde das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Der Erste Weltkrieg – von den Franzosen heute noch „La Grand Guerre“ genannt – war zu Ende.
Wir überqueren die Meuse und fahren zur Oberstadt, dem ältesten Teil Verduns. Hier liegen Kathedrale, Bischofspalais und Zitadelle. Letztere entstand im 16. Jahrhundert und zwar als Reaktion auf die Besetzung Verduns durch Frankreich und fiel, gerade fertiggestellt, nach dem Dreißigjährigen Krieg per Vertrag an Frankreich. In den folgenden Jahrhunderten wurde sie ständig weiter ausgebaut und modernisiert. Kilometerlange Galerien ziehen sich unterirdisch dahin, verbinden zahlreiche Kasematten miteinander, geschützt durch meterdicke Mauern und Erdwälle. Es gab im Verlauf der Geschichte ein ewiges Hin und Her von Besetzungen und Kapitulationen. Im Ersten Weltkrieg jedoch – ganz Verdun war evakuiert worden und diente ausschließlich militärischen Zwecken – fielen Stadt und Festung nicht in die Hände der Okkupanten. Heute kann man auf der Zitadelle weitläufige Spaziergänge machen, durch einen Park, der sich polsterartig über die sternförmig gezackte Anlage erstreckt. In seiner Mitte steht eine romanische Turmruine aus dem 12. Jahrhundert, sie gehörte einst zur Kirche des Benediktinerklosters St. Vanne und überdauerte alle militärischen Attacken.
Über die Mittagszeit ist der Museumsteil im Souterrain der Zitadelle geschlossen. Ganz Frankreich ißt. Laut Prospekt gibt's im Museum ein „Klang- und Lichtschauspiel“ vom unterirdischen militärischen Leben im Jahre 1916. Während wir heißen Tee trinkend im Wagen sitzen und warten, parkt scharf neben uns ein Mercedes der Luxusklasse mit deutschem Nummernschild ein. Bei laufendem Motor tritt der Fahrer, ein gebräunter Schnösel mittleren Alters, an unser Fenster, pocht herrisch und fragt grußlos: „Sagen Sie mal, die Schlachtfelder, die liegen doch hier irgendwo in der Stadt!?“ Daß sie außerhalb liegen, will ihm nicht so recht in den Kopf.
In der Zitadelle ist es merklich kühler. Durch den Eingangstunnel gelangt der Besucher vor Kasse und Verkaufspult, am Ende des Tunnels verschwindet gerade ein Wägelchen voller Leute in einer schwärzlichen Öffnung. Dem Kassierer ist sehr daran gelegen, daß national oder zumindest sprachlich zusammenpassende Personengruppen die Wägelchen besteigen, denn die Erläuterungen während der Fahrt sind mehrsprachig zu haben. Wir entschließen uns für Französisch. Bis man soweit ist, dauert es noch. Am Verkaufsstand kann man derweil diverse Andenken, Karten und Führer über die Schlachtfelder erwerben und auch, in Tüten abgepackt, die berühmten Dragées von Braquier, Mandeln, die nach alter Apothekerart schichtenweise mit Zuckermasse in stumpfen Pastellfarben überzogen werden. Erfunden in Verdun.
Eines der Wägelchen ist leer aus einem Gummivorhang hervorgeglitten. Es hat zwei Sitzbänke mit Griffstangen und ist etwas größer und breiter als ein Geisterbahnwägelchen. Vor uns nimmt ein bärtiger Algerier mit Sohn und Enkel Platz, und dann setzt sich das Gefährt ruckelnd in Bewegung, fährt leicht abwärts in einen stockfinsteren Gang. Er riecht nach Schmieröl und Staub, die Temperatur, so stand draußen zu lesen, beträgt sieben Grad. Wir ruckeln jetzt kurz auf einer ebenen Strecke dahin, plötzlich hält das Wägelchen, ruckelt nach links in eine Art Nische. Vor den Augen, die sich gerade an die Dunkelheit gewöhnt haben, taucht ein verließartiger Raum auf, in dem ein junger Offizier sitzt und bei Kerzenlicht einen Brief verfaßt. Er schreibt mit Tinte und Gänsekiel. Der Eindruck ist irgendwie aquariumartig, so als würde hinter einer sehr großen Scheibe ein wirklicher Schauspieler agieren, andererseits aber wirkt die Perspektive des Raumes bei näherem Hinsehen merkwürdig verzerrt, vielleicht läuft auch ein Film auf einer schräg gestellten Leinwand? Am ehesten fühlt man sich an ein Hologramm erinnert, an ein sprechendes, sich bewegendes Hologramm. Die Sinne sträuben sich. In getragenem Tonfall wird der Brief verlesen, dann erlischt die Szenerie, das Wägelchen fährt in weitere Nischen, vor weitere Szenen, in denen der Festungskommandant mit seinen Offizieren die Lage berät. Auch unser junger Briefschreiber taucht wieder auf und wird von einem Untergebenen mit „Mon Capitain“ angesprochen. Dazwischen Fahrt und Dunkelheit. Von fern her hallt Geschützdonner durch die Gänge und von nebenan – wo gerade das nachfolgende Wägelchen angekommen ist – die getragene Verlesung des Briefes. Bald schon wirken die auf geheimnisvolle Weise vors Auge des Besuchers projizierten Schauspielszenen seltsam grotesk. Der leidenschaftliche Vortrag und die Komprimierung des historischen Ablaufs auf Minutenlänge scheinen ständig gegeneinander anzukämpfen. Das Dahinwackeln durch die Kälte bleibt auch nicht ohne Wirkung. Man gerät unweigerlich in eine lebhafte Schaden- und Spektakelfreude, kindliche Neugier auf die nächste Unglücksbotschaft macht sich breit. Oben rücken meine Landsleute heran – der Feind. Es tobt ein brachialer Kampf um die Festung, man will sie „ausbluten“ lassen. Der kommandierende General ist angesichts der feindlichen Übermacht zur Räumung entschlossen, da, im letzten Moment, kommt vom Ministerpräsidenten Briand der Befehl zur weiteren Verteidigung von Verdun. „Mon Capitain“ ist gefaßt. Während wir dahinruckeln vergehen Monate. Man fährt vorbei an den gedeckten Tischen der Offiziere und Soldaten. Brotrationen, Suppenteller, Becher, Gläser, Feldbesteck zum Greifen nah. Es fallen die Festungen und Forts östlich von Verdun, die Schlacht an der Somme beginnt. Wir fahren durch eine fabrikmäßige Backstube. Vor den Ofenklappen stehen als Bäckergesellen kostümierte Schaufensterpuppen. In Regalen, hoch aufgestapelt, wartet derbes Kommißbrot auf die Verteilung. Sechstausend Soldaten sind in der Festung stationiert. Von hier aus wird der „Nachschub an Männer und Material“ für die umliegenden Schlachtfelder organisiert. Es gibt ein großes Munitionslager, eine Mühle, Großbäckerei, Küche, diverse Werkstätten, sogar ein eigenes Wasserwerk. Nun fahren wir durch unterirdische Lazarette, vorbei an Röcheln und Stöhnen, an Schaufensterpuppen, die mit durchgebluteten Verbänden im schummrigen Halbdunkel auf ihren Stockbetten liegen und Sterbende simulieren. Manche stehen auch daneben, so als hätten sie sich mühsam aufgerappelt, um Haltung anzunehmen vor der Besichtigungskommission, in die wir uns zunehmend verwandeln. Irgendwann, nach längerer Geradeausfahrt, klappt eine Scheibe oder eine Leinwand von oben herunter, und noch bevor man sich gesammelt hat, geht die Fahrt mitten durch den Schützengraben, die Leinwand – und somit die Szenerie – bewegt sich fahrend mit. Geschrei und Geschützdonner erschüttern das Trommelfell, Schüsse pfeifen in unmittelbarer Nähe vorbei. Gestikulierende, brüllende Soldaten mit schreckensverzerrten Gesichtern drängen sich panisch an uns vorbei, andere treten zur Seite, heben hilflos die Arme und rufen flehentlich: „Mon Capitain, mon Capitain!“ Man fühlt sich unwillkürlich angesprochen, will rufen: „Eine Verwechslung!“ oder „Haltet durch, Männer!“ – da ist der Spuk schon vorbei. Das Wägelchen ruckelt langsam weiter, in völliger Dunkelheit, dann öffnet sich plötzlich der Panoramablick auf eine vollkommen zerstörte Landschaft. Nach einigen Momenten führt die Weiterfahrt ins Helle, wo sie, flankiert von einem Fahnenwald, vor einer weiblichen Lichtgestalt stockt. Großartiges Finale, markerschütternde Marseillaise, Ende der Rundfahrt. Unsere Mitfahrer und wir taumeln Richtung Ausgang, besser gesagt dorthin, wo wir den Ausgang vermuten, betreten statt dessen aber einen Raum, in dem Soldaten- und Zivilistenpuppen um acht mit Fahnen bedeckte Särge stehen. Die Schaufensterpuppen tragen Uniformen, Helme und aufgeklebte Bärte. Sie haben immer noch jenen arrogant gleichgültigen Blick auf die Kunden, das kantige Kinn, die manirierten Handhaltungen. Und obgleich ein Beinamputierter von fern an „Mon Capitain“ erinnert, gelingt es bei Lichte betrachtet nicht, ein halbwegs glaubhaftes Stimmungsbild nachzustellen. Im Gegenteil, die Szene wirkt makaber wie ein mißratener Scherz, oder zumindest hilflos gescheitert am patriotischen Anspruch. Es handelt sich hier um nichts weniger, als um die Nachstellung eines Staatsaktes, der am 10. November 1920 an diesem Ort stattfand: die Wahl des unbekannten Soldaten. Im Beisein des Ministers Maginot wurde von einem einfachen Soldaten, unter acht anonymen Toten – von acht verschiedenen Schlachtfeldern – derjenige gewählt, der dann stellvertretend für alle unter dem Triumpfbogen in Paris mit allen militärischen Zeremonien beigesetzt wurde. Deshalb wird dort alljährlich die anfangs erwähnte Fackel der Ehrenwache von Verdun entzündet.
Nun ist noch ein langgestreckter Raum voller Vitrinen, Orden, Ehrenzeichen, Uniformteile, Waffen und Urkunden zu durchqueren, bis man wieder vors Verkaufspult gelangt, an dem sich mittlerweile die Wartenden drängen. Wir zwängen uns an der Menschenschlage vorbei durch den Tunnel ins Freie.
Die Schlachtfelder liegen in einem Radius von fünfzehn Kilometern um Verdun herum, die meisten und größten jenseits der Meuse, nordöstlich der Stadt. Der verblüffendste Eindruck ist, daß es sich nicht, wie erwartet, um eine endlose graue Ebene handelt, sondern um eine ausgesprochen hügelige Landschaft, die in weiten Teilen (wieder) mit Wald bedeckt ist. Merkwürdig, daß keiner unserer Freunde und Bekannten, die schon mal hier waren, das für erwähnenswert hielt, denn ich bin fest davon überzeugt, daß auch sie sich die Schlachtfelder von Verdun als Ebene vorgestellt haben. Rätselhaft an dieser falschen Vorstellung ist nicht nur, daß so viele sie haben, sondern auch, weshalb so viele sie haben. Ich vermute, die moderne Vernichtungsmaschinerie eines derart „alten“ Krieges ist schwer vorstellbar. Deshalb schiebt der Kopf immer noch in Kriegsspielmanier Zinnsoldatenheere hin und her über die Tischplatte.
Wir fahren auf asphaltierten Straßen durch eine hügelige Landschaft, an der bei flüchtigem Hinsehen nichts weiter auffällt. Es könnte sich auch um einen Nationalpark handeln. Alles ist gut ausgeschildert, Rund- und Wanderwege führen zu den verschiedenen Sektionen, mehrstündige Fußmärsche durch schüttere Buchenwäldchen, entlang an ehemaligen „Stellungen“ und „Linien“ sind möglich. Den „Höhen“, allesamt durchnumeriert, ist nichts mehr anzusehen, was es bedeutete, sie zu „nehmen“, sie zu „erstürmen“, zu „erobern“. Doch plötzlich, nach einer Weile, fällt auf, daß an bestimmten Stellen die Erde immer wieder einzusinken scheint und der Boden Formen nachbildet, die dem Auge unvertraut vorkommen. Und für einen kurzen Moment wird das Relief dieses Krieges deutlich, fast transparent: Laufgräben, Minenkrater, Granattrichter, Schützengräben sind immer noch da, nur eben von einer dünnen Humusschicht überzogen. Das sind die Zufluchtsorte, in die man sich „Deckung“ suchend warf. Der „Verdun-Führer zu den Schlachtfeldern“ berichtet vom Stellungskrieg, von Schützengrabenkämpfen, Gasangriffen, Minenkrieg, Nahkampf Mann gegen Mann, Bombardierungen aus Zeppelinen und Flugzeugen, durch Artilleriestellungen und die „Kruppsche Riesenhaubitze“, die mit fünfzehn Zentner schweren Geschossen umfangreiche Krater in „die feindlichen Linien“ schoß.
Gründliche Zerstückelung von Mensch, Tier, Dorf, Wald und Feld auf dem höchstmöglichen technischen Niveau, war das die Schlacht von Verdun? War das die Initiation junger Männer im Blutbad? War dieses Massengrab die Geburtsstätte der Moderne? Solche großartigen Metaphern wirken hier ganz fadenscheinig. Am besten man stellt sich so dumm wie man ist. Was sind das eigentlich für zwischenstaatliche Probleme, die sich durch gegenseitiges Aufschlitzen der Bäuche und Zertrümmern der Schädel lösen lassen? Apropos „Zertrümmern der Schädel“, an dieser Stelle sei mir ein kleiner Exkurs zum Thema deutschen Schädelschutzes erlaubt. Es geht um den deutschen Stahlhelm. Ich verstehe ihn nicht. Erfunden wurde er im Ersten Weltkrieg. Die starke Zunahme schwerer Schädelverletzungen führte man auf die Tatsache zurück, daß die traditionelle Pickelhaube modernen Kriegseinwirkungen nicht mehr gewachsen war: Es wurde daraufhin ein „Stahlschutzhelm“ entwickelt und 1916 vor Verdun erstmals eingesetzt. Die Form der Pickelhaube – eine Anleihe bei antiken Vorbildern und mehr zur Milderung von Schlag und Stoß gedacht – wurde weitgehend beibehalten (den Pickel ließ man weg), der Nackenschutz wurde etwas verkürzt. Gerade diese Form aber ist wie geschaffen für die Erzielung schwerer Kopfverletzungen. Nicht nur deshalb, weil sie im sogenannten Gelände durch ihre ausgesprochen prägnante Kontur auffällt, sondern besonders dadurch, daß die steile Topfform den aufprallenden Geschossen und Splittern viele spitze Winkel bietet und damit bessere Durchschlagbedingungen als beispielsweise ein schüsselförmiger Helm (wie ihn beispielsweise Engländer und Franzosen trugen). Erst 1944, fast am Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde ein schüsselförmiges Modell entwickelt, das 1945 den alten Stahlhelm ablösen sollte. Doch dazu kam es nicht mehr. Mit diesem Schüsselmodell wurde dann die Nationale Volksarmee der DDR ausgestattet, während die Bundeswehr der BRD die Topfform mit reduziertem Nackenschutz wählte.
Um aber zurückzukommen auf das Schlachtfeld von Verdun, auf dem wir stehen und das Jahrhunderte noch zu brauchen scheint, um all das, was nur wenige Zentimeter unter der Erdschicht liegt, umzuwandeln in Humus oder zu zerkrümeln und einzuebnen, so entzieht sich das, was hier stattfand der Vorstellungskraft. In knapp zwei Jahren haben auf diesen Hügeln und in diesen Senken mehrere Millionen Soldaten gegen den jeweiligen Feind und um ihr Leben gekämpft. Die Zahl der Getöteten wird insgesamt auf fast eine dreiviertel Million geschätzt. Was übrigblieb ist ein Landstrich voller Knochen, Militärschrott, Museen, Gedenkstätten, Monumenten.
Das Museum ist ein bunkerartiges Gebäude aus hellem Sandstein. Es steht an der Stelle des ehemaligen Bahnhofs Fleury, mitten im damaligen Kampfgebiet. Um das Gebäude herum wurde allerhand wetterfest in Grau, Graugrün und Schwarz angestrichenes Kriegsgerät aufgestellt. Kanonen, Minenwerfer, Munitionswagen (verschiedener Kriegsparteien). Und auch mannshohe Sprenggranaten, die französischen neigen eher zu wuchtiger Stumpfheit, die schmaleren deutschen haben nadeldünne Spitzen. Das Museum ist dem Andenken an die Gefallenen gewidmet. Seine Exponate stammen aus der Schlacht von Verdun oder berichten über sie in liebevoll gestalteten Inszenierungen, wie es in allen Militärmuseen der Brauch ist, mit dem einzigen Unterschied, daß hier innen die Waffe liegt und gleich draußen das Ziel, unter zahllosen weißen Steinkreuzen. Aber wahrscheinlich wäre alle Museumspädagogik ganz fehl am Platze. Die Präsentation möglichst vieler Fetische erfreut sich der größten Beliebtheit, und auch die wachsfigurenkabinettartigen Auftritte uniformierter Schaufensterpuppen an MG und Raketenwerfer sind letztlich interessanter als eine in die Vitrine gelegte Uniform. Offenbar kommen zwanghafter Exhibitionismus des Militaristen und begierige Schaulust des Zivilisten ideal zusammen. Unlängst las ich, daß es im Ersten Weltkrieg in Wien eine ganz besondere Attraktion gab. Das Kriegsfürsorgeamt hatte im Vergnügungspark, dem Prater, einen Schützengraben eins zu eins eingerichtet, täglich spielten zwei Militärkapellen, es gab Essen aus der Gulaschkanone, und an den Wochenenden wurden die Kriegs- und Sanitätshunde vorgeführt. Die Besucherzahlen waren enorm. Aber auch die Besucherzahlen des Museums hier können sich sehen lassen: Jährlich kommen 250.000 zur Besichtigung aus nah und fern.
Zu besichtigen ist auch Fleury, „ein vollkommen zerstörtes Dorf“, wie es im Führer heißt. Es lag im Zentrum zwischen den Forts und Festungen und wurde 1916 mittels blutiger Kämpfe wechselseitig „genommen“ und „überrollt“. Mehr als 16mal soll es den „Besitzer“ gewechselt haben, bis dann eine marokkanische Schützeneinheit die verbliebenen Ruinen endgültig für die Franzosen zurückeroberte. Viele der Besucher machen den kleinen Abstecher vom Museum hierher wohl deshalb, weil sie sich ein „vollkommen zerstörtes Dorf“ anschauen möchten, es gibt aber außer einer neuen, romanisch gestalteten Kapelle für „Unsere liebe Frau von Europa“ nichts, buchstäblich nichts, was an ein Dorf erinnern könnte. Wer nicht gleich enttäuscht den Rücken kehrt, der kann an den Wegen, zwischen den Bäumen des Waldes, der über Dorf und Feld gewachsen ist, auf Tafeln lesen, wo ehemals Bäckerei, Tischlerei und Dorfstraße waren. Auch hier treibt der Wahnsinn dieses Krieges seltsame Blüten. Das 1916 „verschwundene“ Dorf gibt es rechtlich gesehen heute noch. Es hat einen offiziellen Bürgermeister, der unter anderem die jährlichen Treffen ehemaliger Bewohner und ihrer Nachkommen organisiert. Dadurch ist Fleury nicht – wie die anderen zerstörten Dörfer um Verdun – von der Landkarte verschwunden.
Fährt man die Straße weiter in nördlicher Richtung, so wird bald über den Wipfeln der Bäume die Spitze eines gewaltigen Bauwerks sichtbar, dem ossuaire, dem Beinhaus von Douaumont (nach dem zerstörten Dorf Douaumont, das unweit von dieser Stelle stand). Ich habe so etwas, ehrlich gesagt, noch nicht gesehen in meinem Leben. Auf einer asphaltierten Parkplatzfläche von schätzungsweise sechstausend Quadratmetern reckt sich wuchtig das granatenförmige Gebilde aus knochenbleichem Sandstein fast fünfzig Meter in den Himmel. Es scheint herauszuwachsen aus zwei walzenförmigen Seitenteilen und einem plumpen Stutzen auf der Rückseite. Ein gedrungenes, tiefliegendes Rundbogenportal führt geradewegs auf den kahlen, buchsbaumgesäumten Heeresfriedhof. 15.000 Tote liegen hier in Reih und Glied. Die Zahl entspricht der Stärke einer Division (ich habe nachgeschlagen). Auch die Grabfelder hat man in militärischer Ordnung angelegt, kompanieartig voneinander abgerückt. So als seien sie in Formationen aufmarschiert zur großen Parade, stehen die weißen Steinkreuze stramm vor dem granatenförmigen Turm; der weiß Gott was symbolisiert. Genau so fremd würde ich mich als Entdeckungsreisende fühlen, die mitten im Urwald auf Tempel und Kultstätten stößt, auf Knochen von Unmengen von Geopferten, auf Hekatomben von jungen Männern, dargebracht in der Blüte ihres Lebens, bei einem Fruchtbarkeitskult, durch Befehl greiser, mächtiger Herrscher.
Auf dem Parkplatz ums Beinhaus stehen zahlreiche Autos und Busse. Junge Familien mit Kindern gehen herum, auffallend oft kann man drei Generationen gemeinsam dahinspazieren sehen. Auch Veteranen in dunklen Anzügen sind unterwegs. Weltkrieg-II-Teilnehmer, bis auf wenige Ausnahmen. Sie tragen ihre Orden und Auszeichnungen. Am Vormittag gab es überall in den Städten militärische Zeremonien mit Paraden, Fahnen und Marschmusik. Vielleicht klingt im Inneren der Veteranen davon noch etwas nach, denn sie gehen rhythmisch gemessenen Schrittes dahin, die schlendernden Zivilisten schnell hinter sich lassend. Zwischen den Autos wirft lachend ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit knochenförmigen Hundebiskuits, denen ein aprikosenfarbener Pudel laut bellend nachjagt. Ringsum wird auf zahlreichen Hinweisschildern darauf aufmerksam gemacht, daß die Totenruhe zu beachten ist. Campieren, lautes Lachen und Essen sind untersagt.
Der untere Eingang ins Beinhaus führt durch einen Verkaufsraum für Andenken, Ansichtskarten und Bücher. Hier werden auch Werke von Ernst Jünger in Deutsch und Französisch zum Kauf angeboten. An der Wand hängen mehrere alte Stereobildbetrachtungsautomaten aus Zeiten, in denen Bilder noch lange angeschaut wurden und tief beeindruckten. Jeder Holzkasten zeigt einen anderen Kriegsausschnitt. Ich wähle den „Luftkrieg“. Nach Münzeinwurf geht es los: Die Kopfhörer bringen dröhnende Motorengeräusche, im Guckkasten erscheint leicht vergilbt und unscharf ein lächelnder Flieger mit fellgefütterter Lederjacke, den weißen Schal lose um den Hals gelegt, er trägt eine lederne Haube, Schutzbrille und Handschuhe und lehnt lässig an seiner Propellermaschine. Durch die stereoskopischen Bilder entsteht eine fast dreidimensionale Tiefenwirkung, so daß man meint, hineinschauen zu können in diesen längst vergangenen Vormittag. Per Handkurbel lassen sich die Bilder wegklappen, bis eine neue Szene erscheint. Im Kopfhörer ertönt ein Kommentar, immer wieder unterbrochen durch Getöse und ratterndes Schießen. Zu sehen ist eine angreifende Maschine. Laien wird erklärt, der „Luftkampf“ sei eine der Errungenschaften des Ersten Weltkrieges. In der Schlacht um Verdun, so erfährt man, wurde erstmals in der Geschichte der Menschheit ein „geschlossenes Kampfgeschwader“ eingesetzt (von den Deutschen). Auf weiteren gelbstichigen Bildern sind brennende, abstürzende Maschinen zu sehen, untermalt vom Pfeifen des Fahrtwinds. Die Mehrzahl der Bilder aber zeigt die Maschinen am Boden, abgeschossen, abgestürzt, halb verkohlt, zerborsten. Die „Helden der Lüfte“ liegen in allen Zerschmetterungsgraden daneben oder halb unter ihnen begraben. Akribisch fotografiert, wie zu Lehr- und Forschungszwecken, wurden die flachgepreßten Leiber, die unglaublich verdrehten, aus der Ordnung geratenen Extremitäten, die abgerissenen Arme und makellos weißen Schals. Wer sich das eine Weile anschaut, ist bald ganz überzeugt davon, ein Gerät vor Augen zu haben, das keinem anderen Zweck dient, als Männerkörper aus möglichst großer Höhe zu Boden schmettern zu können.
Am Verkaufspult finden wir eine Broschüre, in der erwähnt wird, daß sich die Architekten des Ossariums (1920 bis 1932) an dem damals gerade berühmt gewordenen Einsteinturm von Erich Mendelssohn orientiert haben. Über eine enge Treppe gelangt man nach oben ins Hallengewölbe, gemauert aus großen hellen Steinquadern. Da viele Menschen in der Halle sind, ist die Dimension auf den ersten Blick nicht gleich zu sehen. Man geht und geht auf glänzendem Boden mit Mosaikornamenten, vorbei an großen, schmiedeeisernen Kerzenständern, die vor etwas höhergelegenen Seitengewölben stehen. Die Querhalle ist fast hundertvierzig Meter lang und hat achtzehn von diesen kurzen Seitengewölben, in denen die Grüfte liegen. Jede mit zwei polierten, sarkophagartigen Granitblöcken. Sie verschließen die Kammern mit den Knochen der Toten. Im Ossarium liegen die Überreste von etwa 130.000 nicht identifizierbar gewesenen französischen und auch deutschen Soldaten. Jede Nischengruft trägt den Namen des Schlachtfelds, auf dem die Gebeine gefunden wurden, und Namen der dort Vermißten. An den beiden Enden der Säulenhalle wurden in großen, halbrunden Grüften all die Knochen untergebracht, für die anderswo kein Platz mehr war. Zurück zum Turm, dessen Ersteigung wir uns ebenso ersparen wie die Besichtigung seines Museums. Laut Führer kann man bis zur Spitze hinaufsteigen, dort hängt eine 2.300 Kilogramm schwere Totenglocke, auch Siegesglocke genannt.
Draußen ist es kühl, der Parkplatz beginnt sich zu leeren. Auf einem Rundweg kann man an der Außenwand des Gebäudes entlang gehen und durch kleine Fensterchen in die randvollen Grüfte hineinschauen. Schulterblätter, Becken- und Schenkelknochen liegen wild durcheinander, dazwischen Schädel mit bizarren Einschußlöchern. Ein Kind kommt gelaufen, blickt durchs Fensterchen und ruft freudig: „Papa, Papa – squelettes!“
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